Der übermäßige Würgereiz

von Falk Ritter, Schleswig

Veröffentlicht: Ritter, F.: Der übermäßige Würgereiz. In Müller-Fahlbusch, H., Sergl, H.G. (Hrsg.): Der psychopathologische Fall in der zahnärztlichen Beratung und Behandlung. Quintessenz-Verlag, Berlin, Chicago, London, Sao Paulo, Tokio 1990

Es gibt Patienten, die mit Abwehr reagieren, wenn man den gestreckten Zeigefinger geradewegs in ihren Mund einführt und den Zungenrücken berührt. Sie heben dann die Zunge an und verschließen den Pharynx. Vom übermäßigen Würgereiz spreche ich, wenn diese Abwehr psychisch bedingt sehr weit ventral auszulösen ist. Dieser Würgereiz kann die zahnärztliche Behandlung sehr erschweren. In meiner Zahnarztpraxis konnte ich bei einem Patienten Entstehung und Verlauf eines übermäßigen Würgereizes beobachten.

Fallgeschichte
Diese Fallgeschichte handelt von einem 32 Jahre alten unverheirateten Handwerker, der 1979 zum ersten Mal in meine Praxis kam. Die Fragen zur allgemeinen Anamnese im Anmeldeformular strich er diagonal durch, wohl als Zeichen dafür, daß er sich gesund fühlte. Sein Äußeres und sein Gebiß waren vernachlässigt. Chirurgische, konservierende und prothetische Behandlungen konnte ich bei ihm bis 1982 problemlos durchführen.
1983 kam er in meine Praxis, um sein Gebiß einmal ganz sanieren zu lassen. So nebenbei erwähnte er, daß er seit einiger Zeit ein Magenulcus hatte und wegen seines "bösen Chefs", der ihn fortwährend schikaniere. Ich schlug eine totale Sofortprothese im Oberkiefer und einen kombinierten Zahnersatz im Unterkiefer vor. Die erforderlichen Röntgenaufnahmen, Vorabdrücke im Unter- und Oberkiefer, chirurgische und parodontalchirurgische Vorbehandlungen, Zahnpräparationen und Anästhesien ließ er noch anstandslos über sich ergehen. Als ich aber den Abdruck mit individuellem Löffel im noch bezahnten Oberkiefer nehmen wollte, verhinderte der Patient dies durch Hochdrücken des Zungenrückens, so daß ich den Löffel nur bis zu den Eckzähnen einführen konnte. Eine Oberflächenanästhesie brachte auch keine Besserung.
Durch hypnotische Entspannung konnte ich zwar das unangenehme Gefühl in Magen und Hals kurzfristig beseitigen, doch der Abwehrreflex gegen den Löffel blieb. Befragt, was mit ihm los sei, berichtete er, daß er jetzt arbeitslos sei und gegen seinen ehemaligen Chef prozessiere. In der nächsten Sitzung führte ich bei ihm das katathyme Bilderleben 1) durch. Bei der Aufarbeitung des Erlebten kam heraus, daß ihn auch noch seine langjährige Freundin vor die Tür gesetzt hatte und jetzt mit einem jüngeren Mann "mit Sportwagen" zusammenlebte.
Da mein Plan, eine totale Sofortprothese anzufertigen, nicht zu verwirklichen war, unternahm ich folgendes: Ich stellte auf dem Planungsmodell eine kleine Kunststoffprothese her, die palatinal sehr ausgeschnitten war. Damit kam der Patient gut zurecht. Im Unterkiefer mußten wir lediglich auf den Ersatz der 7er verzichten. 1985 und 1986 kam der Patient mehrmals wieder, um seine Oberkiefer-Teilprothese erweitern und unterfüttern zu lassen, was beides gut klappte. Auch die dafür erforderlichen Abdrücke im Oberkiefer gelangen gut. Zur Anfertigung einer totalen Oberkieferprothese ließ er sich aber nicht bewegen.
Im Sommer 1985 schrieb ich ihn an, um zu erfahren, was aus ihm geworden war. Er kam zu mir und berichtete mir folgendes: Im Prozeß gegen seine früheren Arbeitgeber hatte er eine Abfindung erstritten. Er hatte eine neue Freundin, und er hatte unregelmäßig Arbeit in einer anderen Stadt gefunden. Er war dort zu einem anderen Zahnarzt gegangen, um sich den Oberkiefer sanieren zu lassen. Im Oberkiefer war ein herausnehmbarer Zahnersatz angefertigt worden, der auf 3 Restzähnen abgestützt war. Da er damit nicht zurechtgekommen war, war diese Arbeit noch 2mal wiederholt worden, was aber auch keine Besserung gebracht hatte. Ein Prozeß gegen den neuen Zahnarzt war "geplatzt", weil die Sechsmonatsfrist verstrichen war.
Ursache für die Prothesenunverträglichkeit war ein Planungsfehler des Zahnarztes. Es lag nämlich eine ungünstige Pfeiler-Selektion vor, die die Prothese zum Schaukeln bringen mußte. Nach seinen Magenbeschwerden und seinem Würgereiz befragt, antwortete er: "Beides kommt und geht." Einen Würgereiz löste die neue Teilprothese nicht aus. Ende 1988 sah ich ihn zum letzten Male wieder. Trotz der Insuffizienz dieser Teilprothese wollte er sie nicht gegen eine Vollprothese eintauschen. Ich empfahl ihm die Erlernung des Autogenen Trainings und die Lektüre eines guten Buches 2) über den Umgang mit Menschen. Wir verblieben dann so, daß ihn erst der unvermeidliche Verlust der restlichen Zähne zur Anfertigung einer Vollprothese zwingen sollte.

Zusammenfassung
Der Patient hatte nach seinen eigenen Angaben noch nie an Magenbeschwerden oder an übermäßigem Würgereiz gelitten. Sein Äußeres und sein Mund waren ungepflegt. Als seinen 1. Wohnsitz gab er bis heute die Adresse seiner Eltern an - er ist jetzt 41 Jahre alt! Seine langjährige Freundin, die ihn wegen eines Jüngeren mit Sportwagen vor die Tür gesetzt hatte, war 12 (!) Jahre älter als er. Er hatte auch nach seiner ersten Arbeitslosigkeit nur sporadisch Arbeit gefunden, die er immer wegen persönlicher Differenzen mit seinen Vorgesetzten verlor. Er führte mindestens 2 Prozesse.

Schlußfolgerungen
Der Patient ist bis heute keine reife Persönlichkeit geworden. Er versteht es nicht, seine alltäglichen Konflikte optimal zu lösen. Der Verlust von Arbeitsplatz und Lebensgefährtin schlug ihm buchstäblich auf den Magen, was eine typisch psychosomatische Reaktion darstellte. In dieser Situation wollte er sich sein Gebiß sanieren zu lassen.Erhoffte er sich durch bessere Zähne eine Rückgewinnung seiner Freundin? Durch meine Absicht, ihm die restlichen Oberkieferzähne zu extrahieren, drohte ihm ein weiterer Verlust, den er durch einen plötzlich auftretenden Würgereiz unbewußt verhindern wollte. Diesen übermäßigen Würgereiz wird er wahrscheinlich erst dann verlieren, wenn seine Persönlichkeit gereift ist. Ob ihm meine Buchempfehlung und das Autogene Training dazu verhelfen werden, bleibt abzuwarten. Vorläufig wird er keinen totalen Zahnersatz tolerieren.

Literatur
1. Leuner, Hanscarl: Katathymes Bilderleben, Grundstufe. Thieme, Stuttgart 1982
2. Carnegie, Dale: Wie man Freunde gewinnt. Scherz-Verlag, Bern und München (1983).

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