Ansichten eines wohlsituierten preußischen
Beamten
über Schleswig und die Schleswiger*innen
in den 1870er Jahren gesammelt.
von Falk Ritter
Veröffentlicht in den Beiträgen zur
Schleswiger Stadtgeschichte 2021, Seite 81 bis 109
Einleitung
Vom 24.10.1880 bis 18.12.1880 veröffentlichte ein anonymer preußischer
Beamter aus "Mitteldeutschland" in den "Schleswiger Nachrichten"
sieben "Briefe aus Schleswig", die er einem Freund geschrieben
hatte.
Im Folgenden werden diese Briefe in der seinerzeit üblichen Rechtschreibung
wiedergegeben.
Die Kapitelüberschriften, sollen diese Briefe thematisch gliedern
und stammen alle vom Autor Ritter ebenso wie die notwendigen kritischen
Anmerkungen.
Im Editorial der Zeitung war zu lesen:
"Hiermit eröffnen wir eine Reihe von Briefen eines längere
Zeit in Schleswig lebenden Mitteldeutschen. Wir glauben dieselben, welche
uns von befreundeter Hand zur Verfügung gestellt wurden, unsern Lesern
nicht vorenthalten zu sollen, da sie manche seine Beobachtungen zur Charakteristik
unseres engern Heimathslandes uns zu enthalten scheinen, Beobachtungen,
die um so wertvoller und nützlicher sind, als sie von einem Mann gemacht
wurden, dem sichtlich während seines hiesigen Aufenthaltes Schleswig=Holstein
und seine Bevölkerung lieb und theuer geworden ist." 1)
Theo Christiansen meinte in seinem Buch über "Schleswig 1836-1845", dass der Autor Willibald Wulff gewesen sei. Wulff war Polizeibeamter, stammte aus Hamburg und war im Tierschutz und am Theater engagiert, worüber in diesen Briefen allerdings nichts erwähnt wird. 2)
Der Autor glaubt hingegen, seine Identität anhand der An- und Abmelderegister gelüftet zu haben. Es handelte sich wohl um den Regierungs=Hauptcassen=Assistenten Emil Damm, der 1871 aus Cossen nach Schleswig gezogen war. 1878 wohnte er im Hesterberg 5 und 1880 im Lollfuß 61. Er war verheiratet mit Anna Emilie Wilhelmine geb. Schulze. Am 13.6.1881 zog er mit ihr nach Breslau. Seine lateinischen, französischen und Goethe-Zitate deuten auf Abitur-Bildung hin. Universitätsbildung ist wohl auszuschließen, sonst hätte er noch über Erlebnisse in seiner Verbindung berichtet. Dass er ein "mittlerer" Beamter war, bezeugt eine berufliche Beurteilung vom 16.8.1877. 3)
1. Brief am 24.10.1880
Wie es mir im "nordischen Neapel" gefällt? fragst Du
und giebst mir durch Anwendung der zierlichen Gänsefüßchen
zu erkennen, daß Dir die reizende Lage Schleswigs wohl bekannt ist.
Ich halte mich deshalb von einer Beschreibung dieser für überhoben
und fasse den Gesammteindruck, welchen Schleswig mit seinem Weichbilde
auf mich hervorgerufen, in die Versicherung, daß das edle Zusammenwirken
von Kunst und Natur hier in der That etwas eigenartig Liebliches geschaffen
hat.
Gern aber schildere ich die Gesammteindrücke, die ich hier empfangen,
und die Beobachtungen, die ich angestellt habe.
Wenn dann hie und da die Sitten und Gebräuche unserer mitteldeutschen
Heimath mit jenen in Parallele gesetzt werden, bist Du wohl nicht böse?
Regt dies doch zum Vergleichen und Denken an!
Ja lieber Freund, es ist und bleibt wahr!
Wohin auch immer uns das Schicksal wirft, überall sehen wir dasselbe
Treiben und Thun, dasselbe Denken und Fühlen, dieselben Ideale, dieselben
Leidenschaften sich regen, die unsere Brust bewegen.
Tout comme chez nous; nur die Lebensformen sind mehr oder weniger verändert.
Ich habe mich in den wenigen Monden, seitdem ich direct aus Mitteldeutschland
nach dem "meerumschlungenen" Lande "importirt" worden
bin, redlich unter Land und Leute umhergetrieben;
ich habe viele echte, wahre Herzensfreude empfunden über den naturfrischen
biederen Character des schleswigschen Völkchens, aber ich habe auch
recht oft schon über den bewunderungswerthen Gleichmuth desselben
bedenklich den Kopf schütteln müssen.
Gleichmuth ist eine schöne Tugendt, nur muß sie ihr Correctiv
in einem edlen Ehrgeiz finden, wenn sie nicht zu einer phlegmatischen Ruhe
ausarten soll.
Mehr als einmal ist mir hier Reuter´s braver Jochen Nüßler
vor die Seele getreten. 4)
Meine Aufzeichnungen können selbstverständliche nur das Leben
im Allgemeinen auffassen und ich bin mir wohl bewußt, daß Ausnahmen
bestehen.
Es sind dies aber Ausnahmen, welchen eben nur die aus den Erfahrungen und
Beobachtungen konstruirte Regel bestätigen!
Doch zur Sache!
Wenn man auf so einer Importirungsreise, wie ich sie machen mußte,
in Hamburg Halt macht und sich einige Tage in dem wüsten Drängen
der Großstadt mit schieben läßt, dann empfindet man -
in Schleswig angekommen - recht tief den Kontrast zwischen unseren modernen
Kulturerfolgen, wie sie in der Großstadt zur Schau stehen, und dem
stetig aber still und friedlich sich entwickelnden Leben einer kleinen
Provinzialstadt.
Die Hunderte von jagenden Wagen und Fuhrwerken die den Verkehr und die
Handelsprodukte in Hamburg von dem einen Endes der Stadt zum andern bringen,
wo sind sie hier?
Ein schwerer Omnibus mit lebensmüden Gäulen und eine auffallend
große Zahl von langsam dahinpendelnden Handelsfrauen sind an ihre
Stelle getreten, und daß es nicht so eilig ist, verräth der
Umstand, daß diese hochbetagten Jüngerinnen Merkurs trotz ihrer
langsamen Gangart immer noch Zeit finden, sich in einem Schwätzchen
die Neuigkeiten der Stadt auszutauschen.
Wir Menschen sind viel zu abhängig von unserer Umgebung, als daß
ein solcher Anblick nicht Ruhe in das noch durch Hamburg wild erregte Herz
bringen sollte.
Und heute noch erweise ich mich den guten, alten Handelsfrauen dankbar
für das mir unbewußt bei meinem Einzug dargebrachte Geschenk
der Seelenruhe, indem ich manchen Nickel gegen ihre Waaren austausche.
Die Ruhe konsolidirt sich auf einem Spaziergang außerhalb der Stadt.
Wenige Schritte hinter dem Hausgarten und - uns "Landratten"
ungewohnt -
"Schon thut das Meer sich mit erwärmten Buchten
vor den erstaunten Augen auf." [aus Goethe: Faust 1]
Da ist der Blick nicht mehr beengt durch die Vorstädte der Großstadt
mit ihren Fabriken und rauchenden Schornsteinen, mit ihren Arbeiterbataillonen
und ihrem Proletariat;
eine breite, weite Wasserfläche von grünen Wiesen und Weiden
umrahmt ergötzt das Auge. Da tummelt sich Tag und Nacht das "liebe
Vieh", "da winkt die rothe Kuh dem Ochsen freundlich zu."
"Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein." [aus
Goethe: Faust 1]
Milch
"Doch was sagte ich?
Giebt es denn gar keine Wagen in Schleswig?
Die drei hintereinander mit Kling und Klang heraufkommenden weißen
Milchwagen strafen mich Lügen.
Und das wird mir mein Lebelang ein Räthsel bleiben, wo alle die Milch
in Schleswig hinkommt.
So und so viele Bürger halten ihre eigenen Milchkühe auf der
Weide;
so und so viele Milchmädchen bringen Morgens und Abends eimerweise
Milch zur Stadt und trotz dem werden ganze Wagenladungen dieser kostbaren
Gottesgabe noch verbraucht.
Milch in allen Tonarten kann man hier jederzeit erhalten.
Volle Milch, Buttermilch, Rahm, abgerahmte Milch, Kindermilch, Herzbruder
was willst Du noch mehr?
Sollte es etwa daher kommen, so dachte ich, daß die guten alten Schleswig=Holsteiner
als ein Ruhiges, ernstes Völkchen da draußen in der Welt vortheilhaft
bekannt sind, daß sie am Ende gar - dem Auge des Fremden unsichtbar
- mit der Kuhmilch auch "die Milch der frommen Denkart" einschlürfen.
Seitdem mir dieser Gedanke aufgestiegen ist, passe ich immer genau auf,
wenn ein Eingeborener Milch trinkt; bis jetzt freilich ohne Erfolg."
Abb. 1: Flaemisches Milchmaedchen, Postkarte 1904
Alkohol
"Von jener nächtlichen Bierreise an, wo unsere "Bierehrlichkeit"
in Konkurs gerieth - wir hatten ja unser Wort verpfändet in jeder
Kneipe, die auf dem Heimweg lag, einen Steigbügeltrunk zu nehmen,
die große Anzahl derselben machte uns aber die Einlösung unseres
Wortes unmöglich - sind wir eines Glaubens gewesen, daß unsere
Vaterstadt das Erklecklichste leistet, was im Restaurations= und Gastwirthfache
zu leisten ist.
Unser Glaube ist falsch!
Komm und überzeug´ Dich hier;
denn was das Auge sieht, glaubt das Herz.
Mit steigender Verwunderung blickte ich auf die immer neu auftauchenden
Firmenschilder, welche die Existenz eines Jeden verrathen, wo man jederzeit
für Geld die Dampfmaschine seines eigenen lieben Ich´s mit dem
"Lebensöl" schmieren kann.
"Hat auch sein Gutes", dachte ich bei mir selbst, denn hier muß
man mehr wie anderswoh gegen die Unbilden der Witterung sich zu schützen
Gelegenheit haben, und dann findet man immer nahe Unterkunft, wenn Bedürfnisse
an einen herantreten, für welche unser heimischer Magistrat besondere
eiserne Häuschen aufgestellt hat, und - last not least - einen trockenen
Raum bei dem vielen Regenwetter, wenn etwa der Regenschirm "in Gedanken
zu Hause stehen geblieben ist."
Der liebe Gott muß dies Schleswig wirklich recht lieb haben, denn
sonst steckte er nicht bei jedem 4. Hause den Arm heraus.
Doch genug für heute!
Ich bleibe bei dem Bilde und wünsche: Gott schütze Dich immerdar
mit seinem starken Arm." 5)
Abb. 2: "Arm" an Goschs Gasthof
2. Brief am 7.11.1880
Zucker
"Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen".
Hatte ich Dir am Schlusse meines letzten Briefes von den vielen Gastwirthschaften
erzählt, so beginne ich heute mit den Läden der Zuckerbäcker,
welche bezüglich der Zahl mit jenen wetteifern.
Es muß jedem Fremden auffallen, daß man trotz der kernigen
Gestalten hier so "süß" ist.
Den einzigen Grund, welchen ich für diese auffallende Thatsache zu
finden vermag, ist der, daß Zucker ein mächtig förderndes
Mittel zur Erzeugung von Körperwärme ist.
Die allgütige Mutter Natur hat mit den vielen Zuckerbäckereien
den Schleswigern also einen nicht mißzuverstehenden Fingerzeig gegeben,
wie man in angenehmer und doch wirksamer Weise die Schärfe der Ostwinde
paralysiert.
In noch weit auffallenderer Weise habe ich das Zuckeressen aber in Kopenhagen
gefunden, dort bekommt man jede Tasse Kaffee, Thee oder Cacao nicht nur
mit Zuckerbackwerk, sondern noch mit einer großen Schale Streuzuckers
- letztere zur beliebigen Benutzung - servirt.
Hätte ich nur vor 32 Jahren gewußt, ich hätte mich nur
um des süßen Zuckers willen in Kopenhagen hätscheln lassen."
Abb. 3: LaGlace, Kopenhagens ältester Zuckerbäcker,
1870 gegründet von dem Schleswiger Nicolaus Henningsen.
Blumen
"Zu diesem soeben entworfenen "süßen"
Bilde - steht, was die Süßigkeit anbetrifft - "süß"
ist nämlich vielfach identisch mit schön in Schleswig - der reiche
Blumenschmuck der Fenster in seelenvoller Harmonie.
Es ist wirklich reizend zu sehen, wie jedes Fenster selbst der ärmlichsten
Hütte mit Blumen geschmückt ist, wie die weißen Blumentöpfe
mit Goldrand, welche eine hiesige Specialität sind, die Sauberkeit
des Innern auf die Straße reflektiren und wie emsig man bemüht
ist, den geringen monumentalen Werth der Gebäude durch herrliche Rosenstöcke
- am Haus emporgezogen - zu verdecken.
Drum auch - so fuhr mir in den Sinn - hat man hier so unförmlich breite
Fensterformen, damit man recht viele von den Lieblingen aufstellen und
sie alle der Gottessonne theilhaftig machen kann.
Ich erinnere mich nicht, irgendwo die häusliche Blumenkultur - selbst
in den Gärtnerstädten Erfurt und Quedlinburg nicht - so ausgeprägt
gefunden zu haben wie hier im zugigen Norden.
Man hat aus der Liebe und Sorgfalt, mit welcher Frauen Blumen pflegen,
einen Maßstab für ihre Herzensgüte und - wenn ich nicht
sehr irre - auch für ihre Qualifikation zu Müttern hergeleitet;
ich habe in dieser Beziehung nur die eine aber sichere Erfahrung gemacht,
daß Frauen, welche kein Interesse an der Blumenpflege nehmen, zwar
vielfach geistreich und verstandeskräftig, immer aber des echt weibliche,
poetischen Nimbus bar sind.
Doch, lieber Freund, derartige Philosopheme verlieren für Dich ihren
Reiz, wenn die "Frauenfrage" zur Erörterung steht.
Ich sehe Deine Begierde zu wissen, was denn eigentlich die Schleswigerinnen
für welche wären.
Construire Dir ihr Bild aus dem bisher Gesagten; wir wollen dann später
sehen, wie dasselbe sich zur Wirklichkeit verhält."
Abb. 4: Blumen und Fenster auf dem Holm
Fenster
Die Fenster weisen in der That merkwürdige Formen auf.
Sie haben mit allen Fenstern in Norddeutschland das Aufgehen nach außen
gemeinsam, aber vor allen diesen das im Voraus, daß sie ein dem goldenen
Schnitt geradezu hohnsprechendes Verhältnis der Breite zur Höhe
aufweisen.
Durch das Aufgehen nach außen ist die Möglichkeit der größten
Ausnutzung des Fensterraumes gegeben, und das ist praktisch; für die
unförmliche Breite der Fenster kann ich aber weder einen praktischen
noch ästhetischen Grund entdecken.
Eigenthümlich ist die Reinigung derselben.
Bei uns wäscht man, wie Du weißt, dieselben mit einem nassen
Schwamm ab und trocknet alsdann mit Linnen und Leder nach.
Nicht so hier.
Ausgerüstet mit Wassereimer, Schöpfkelle und einer Art von Pinsel,
just wie daheim die Tüncher ihn zum Weißen der Stubendecken
anwenden, tritt die schleswigsche Hausfrau auf die Straße vor das
zu reinigende "corpus delicti" hin.
Eine Kelle voll Wasser fliegt klatschend an die Scheiben, eine zweite,
dritte, vierte folgt nach und während das Wasser langsam vom Hause
herabträufelt, beginnt der Dir als Tüncherpinsel vorgestellte
"Fensterschrupper" seine Abreibearbeit.
Luft und Sonne übernehmen die Funktionen unseres Trockentuches.
Und im Abgießen der Fenster sind die Schleswigerinnen wirklich unermüdlich;
sie müssen es aber auch sein, denn nach jedem Straßenkehren
hat der Wind die Fenster wieder voll belegt, da bei diesem Geschäfte
es keinem einfällt, durch Besprengen mit Wasser den Staub zuvor zu
löschen.
Was für eine vorsorgliche Polizeiverwaltung haben wir doch da zu Hause,
die zum Schutze der Passanten das Staublöschen vor jedem Kehren obligatorisch
machte.
Wie würde eine solche Maßregel den schleswigschen Fenstern zu
Gute kommen?
"Ja, ja in der Fremde erst lernt man den Werth der Heimath kennen",
rief ich aus und dachte dabei an die obengenannte Polizeibehörde,
als ich mich im letzten Winter zum dritten Male an einem und demselben
Tage bei Glatteis unsanft auf die Erde setzte - setzen mußte.
Denn das Streuen mit abstumpfenden Mitteln scheint man hier zwar zu kennen,
man scheint sich aber noch nicht recht klar darüber geworden zu sein,
daß es eine menschenfreundliche Pflicht ist, seine Mitmenschen vor
Schaden zu bewahren, sonst würde man zweifelsohne nicht so lässig
im Streuen sein oder von Polizei wegen die Versäumnis dieser Pflicht
mit strengen Strafen ahnden.
Doch lieber Freund, Du weißt, ich habe nicht gern etwas mit der Polizei
zu thun;
laß mich lieber zu den Hausfrauen zurückkehren.
Es ist wohl überall im weiten deutschen Vaterland Sitte, daß
das liebe Pfingstfest mit reinen Gardinen empfangen und in rein gesäuberten
Stuben gefeiert wird;
aber noch nirgends habe ich gesehen, daß Frauen mit Pinsel und Oelfarbe
so prächtig umzugehen verstehen, wenn es gilt, auch den Fenster= und
Thürbekleidungen ein würdiges Pfingstfeierkleid zu geben.
Just als ob die Maler Strike gemacht und die Frauen in ihre Stelle gerückt
wären." 6)
Fahnen
"Die Theilnahme des Einzelnen an den Geschicken seiner Mitmenschen
giebt sich in liebenswürdiger Weise hier durch reichliche Benutzung
der Flaggen und Fahnen kund. Bei uns zu Hause steckt man die Fahne nur
bei ganz besonders hohen patriotischen Festen zur Dachluke hinaus und ist
der Himmel trübe, dann überlegt sich der Hausvater erst nochmals,
ob er die schöne Fahne der Witterung preisgeben soll. Anders hier.
Ist Hochzeit im Städtchen, - grüne, silberne oder goldene, gleichviel
- dann flaggt die ganze Nachbarschaft; kommt ein General zur Inspicierung
der Truppen, dann kennzeichnen Fahnen seinen Weg. kehrt das Militär
vom Manöver zurück, dann kannst Du die Freude des Wiedersehens
aus den vielen Fahnen sehen. Kurz und gut man ist hier recht freigebig
mit diesem Artikel, und ich muß es schön finden, dem jungen
Brautpaar in dieser Weise ein frohes Glückauf auf die geneinsame Lebensfahrt
zuzurufen. Was nun die Fahnen selbst betrifft, so fällt die überwiegende
Menge blau=weiß=rother auf. Es sind die Landesfarben der Herzogthümer,
hier aber nicht gebraucht um partikularistischen Tendenzen zu symbolisieren.
Aber auch die schwarz=roth=goldne Fahne seligen Andenkens fristet hier
noch in wenigen Exemplaren ihr einsames Dasein. Ich weiß nicht, ob
man heute noch, wie in den schweren Tagen der preußischen Konfliktzeit,
hinter denselben Demagogenthum riecht, jedenfalls ist dieselbe für
ein altpreußisches Auge eine urseltene Erscheinung geworden. Doch
ich will diesen Fahnen nicht zu nahe treten. Wenn sie mit demselben Patriotismus
und mit demselben Interesse an dem Wohle der Mitmenschen hinausgehängt
werden, dann bleibt die That immer patriotisch und immer gut. Nur die Motive
einer Handlung geben derselben ihren Werth."
3. Brief am 24.11.1880
Über den "kleinen Mann" in Schleswig
"Der Gedanke am Schlusse meines letzten Briefes, daß nur
die Motive einer Handlung deren Werth bestimmen, ist wichtig und entscheidend
bei Beurtheilung von Charakteren.
Er soll mein Leitstern sein, wenn ich im Folgenden der Charakter des schleswig´schen
Völkchens in leichten Zügen Dir zu skizzieren versuche.
Ernst wie ihre grauen Meereswellen, ruhig wie ihre öde Heide, so möchte
ich den Volkscharakter der "Meerumschlungenen" fixieren.
Der oft von Bismarck gegeißelte passive Zug im deutschen Nationalcharakter
findet, so glaube ich behaupten zu dürfen, seine besten Vertreter
hier.
Du hast am heimischen Biertisch behauptet, daß man den Menschen am
schärfsten in der Betrunkenheit erkennen könne;
nun, lieber Freund, ich habe hier zwar schon manchen Mann taumeln gesehen,
der einen über´n Durst getrunken hatte, keiner aber hat mir
den widerlichen Anblick der Prahlerei, des öffentlichen Skandalirens
und Fluchens geboten, wie wir es an unseren sozialdemokratisch angehauchten
Arbeitern zu sehen gewöhnt sind.
Ruhig - so weit es das gestörte Gleichgewicht zuläßt -
pendelt man hier seiner Heimstätte zu.
Mit jener Passivität ist eine beneidenswerthe Zufriedenheit gepaart.
Hat der schleswig´sche Bürger sein sicheres, wenn auch nur kleines
Auskommen, dann bescheidet er sich still.
Das Jagen nach Glück und Reichthum bleibt ihm eine unbekannte "Passion".
Er braucht dann nicht mehr die Gunst der Leute, er braucht nicht mehr ihren
Gruß;
er kann auch so leben.
Solche und ähnliche Gedanken habe ich hundertmal aus seinen Äußerungen,
aus seinem legeren Gruß, aus seinem ganzen Thun herausgefühlt.
Diese Zufriedenheit ist der Ausfluß eines seltenen Gleichmuths, einer
bewunderungswürdigen Geduld, die alle auszeichnet.
Ungeduld greift der Zeit mit Wünschen und Sorgen vor;
sie schmälert den Genuß der Gegenwart;
Geduld läßt alles leichter ertragen;
sie macht den Glauben und die Hoffnung an und auf ein Besserwerden unüberwindlich.
Mit einer Geduld ohne Gleichen hat das schleswig´sche Volk die dänische
Beamtenwirthschaft jahrelang über sich ergehen lassen, und die Dänen
haben, indem sie jenen Gleichmuth als Zustimmung deuteten, recht "niedlich"
hier gehaust.
Wie der französische Bauer sich mit seinem stereotypen "cést
la guerre" über alle erlittenen Schäden zu trösten
verstand, so hat Schleswig´s Volk viel und schwer gelitten, in dem
Gedanken:
"Ja, wat kann man dorbi dauhn".
Dieselbe Geduld hat aber auch seine Hoffnung nicht zu Schanden gemacht.
Nur wenn das Gespräch sich seinen Befreiungskriegen anno 48/50 und
64 zuwendet, leuchtet´s und blitzt´s hell auf in den Augen
der Befreiten.
Eine edle Begeisterung, die mich an jene mahnt, welche uns - Du weißt
es sicherlich noch! - anno 70 die Wacht am Rhein nie hören oder singen
ließ ohne Thränen im Auge, setzt sich an die Stelle der dem
Fremden aufgehaltenen Ruhe. -
Ich verkenne keineswegs die hohe Leistung der Seele, die sich in Geduld
offenbart, aber ich kann mich der Ansicht nicht verschließen, daß
sie ohne das regulirende Gegengewicht des Ehrgeizes leicht zum Fehler wird."
7)
Geschäftsleben Teil 1
"Auf dem geschäftlichen Gebiete, wo in unseren Tagen nur
regester Eifer und unermüdliches Schaffen die unentbehrlichsten Werkzeuge
sind, ist die ruhige Geduld, das laisser faire geradezu verwerflich.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich Dir erzähle, daß man
sich hier ruhig gefallen läßt, wenn die Arbeiter beim Bau eines
Hauses die Arbeit zeitweise verlassen, um einer andere zu gleicher Zeit
begonnene Arbeit ein Stückchen weiter zu führen.
Läßt man sich hier einen "neuen Anzug bauen", so wartet
man still und ergeben, bis der Schneider daran kommt;
der Herr Schneidermeister prüft und sichtet aber auch seinerseits
die Arbeiten auf und nach ihrer Schleunigkeit, und so kommt es denn, daß
- wie es beispielsweise meinem armen Winterpaletot ergangen ist - ein Rock
sage und schreibe! acht lange Wochen warten muß, ehe er sich im Schmucke
eines neuen Rockkragens seinen Mitbürgern zeigen kann.
"Kommst Du heute nicht, so kommst Du morgen" ist ein gefährlicher
Grundsatz für einen Geschäftsmann;
ich meine wichtiger und vortheilhafter für den Geldbeutel wäre:
"Was heute nicht geschehen ist, ist morgen nicht gethan."
Doch, lieber Freund, damit sich keine unrichtige Auffassung bei Dir festsetzt,
will ich bemerken, daß es hier eine große Reihe prompt und
coulant arbeitender Geschäfte giebt, und daß sich meine obigen
Bemerkungen, die ich Dir in einem späteren Brief durch in Wirklichkeit
bestehende Fälle illustriren werde, nur auf des Volkes Thun im Allgemeinen
beziehen.
Die Schleswiger sind aber auch ein eminent ehrliches und redliches Völkchen.
Man braucht sich hier nicht hinter Doppeltüren zu verschließen;
die Läden, hinter denen die Waare leicht greifbar liegt, bleiben auch
nachts unbedeckt;
und Rinder, Pferde, Lämmer und Ziegen bleiben in unmittelbarer Nähe
der Stadt Tag und Nacht auf der Weide, ohne daß Diebstähle sich
ereignen.
Die tiefe und fest sitzende Ehrlichkeit widersteht eben der Versuchung.
Und wie wahrhaftig ist das Wesen des Schleswigers.
Sein Ich mit einem falschen äußeren Scheine zu umgeben, liegt
ihm ersichtlich fern.
Er will thatsächlich nicht mehr scheinen, als was er ist;
und dieser Wahrhaftigkeitssinn ist von merkbarem Einfluß auf seine
Höflichkeit und seine Umgangsformen.
Man muß bedingungslos zugestehen, daß das hiesige Volk artig
und höflich ist;
was Du wünschst, wird Dir "gern" oder auch "gerne"
gegeben, und Du wirst stets mit einem "Seien Sie so gut" freundlich
ersucht werden, das Dir gehörige auf ein größeres Geldstück
herausgegebene Geld gütigst an Dich nehmen zu wollen."
Trottoir-Recht
"Leugnen aber läßt es sich nicht, das in den niedrigeren
und häufig auch in den mittleren Gesellschaftsschichten der Mangel
an der sogenannten "Tournüre" 8) empfunden wird.
Man behält auch bei artigem Gruß die Cigarre im Munde und man
weicht, sofern man "Stadtrecht" hat, Dir niemals aus.
Bei uns daheim ist es Anstand, daß sich Entgegenkommende in das Ausweichen
theilen, jeder macht zur Hälfte dem andern Platz;
kommt ein Einzelner zweien entgegen, so übernimmt dieser Einzelne
freiwillig das Ausweichen.
Hier aber giebt es ein "Stadtrecht", welches jedem, der aus der
Stadt kommt, die Berechtigung des Nichtausweichens verleiht.
Armer Junge! Wenn Du mit Deiner Frau bei Regenwetter in die Stadt gehst
und Dich des Besitzes der schmalen Bordsteine, so man hier Trottoir nennt,
freust, wie lange wird Deine Freude dauern?
Da kommen schon Dir zwei entgegen, die auf ihr gutes Recht gestützt
keine Miene machen, Dir die Hälfte des Trottoirbesitzes abzutreten.
Und herunter mußt Du mit Deiner Frau; denn "was Recht ist, muß
Recht bleiben."
Den ausgiebigsten Gebrauch von diesem "Stadtrecht" machen aber
die Soldaten.
In hellen Haufen von zehn und 15 Mann kommen sie einem entgegen und man
kann froh sein, wenn man ohne Anrempelung das Fahrpflaster gewinnt.
Wenn ich einen kommandirenden General zum Vetter hätte, so würde
ich einen Garnisonsbefehl extrahieren, welcher den Soldaten das Ausweichen
auf der Straße klar und präcise zur Pflicht macht." 9)
Äußerer Anstand
"Wie in den niedern und mittleren Ständen vielfach der Mangel
an "Tournüre" auffällt, so scheint mir in den besseren
Ständen viel zu viel auf den "äußeren" Anstand
gegeben zu werden.
Man vergißt, daß nur dann der äußere Anstand existenzberechtigt
ist, wenn das Erscheinen nicht auf Kosten des Seins gepflegt wird.
Wie immer auch in den Einzelzügen der Volkscharakter sich giebt; der
Grundzug desselben - das ruhige, biedere, Vertrauen gebende und deshalb
Vertrauen erweckende, echt deutsche Wesen - wird den Schleswigern immer
in der öffentlichen Meinung ein gutes Urtheil sicher stellen.
Man kann zehn gegen eins wetten, daß der Mann aus dem Volke - wie
ungeschickt und verletzend seine Handlung auch scheinen mag - nicht verletzen
will.
Ich bin, um das zu konstatieren, stets den Dingen auf den Grund gegangen
und habe immer mich überzeugen müssen, daß die Schale zwar
rauh war, der Kern aber gut.
Freilich ist es ein gar eigenes Ding mit dem Durchsehen durch die Schale.
Es giebt viele Menschen und gar sehr viele Damen, welche eben nur mit dem
sinnlichen Auge, nicht mit dem gemüthlichen zu sehen gelernt haben,
welche alles nur nach dem "Aeußeren" beurtheilen und bekritteln;
und da mit dieser Art des "Gebildetseins" bekanntermaßen
stets Arroganz im Urtheil vereint ist, so hört man oft recht schiefe
Urtheile über die Schleswiger.
Doch Gott sei gelobt! Die öffentliche Meinung nimmt keine Rücksicht
auf die Ansichten verhätschelter Herrchen und "verbildeter"
Dämchen und deshalb wird der Kern immer anerkannt sein und bleiben."
4. Brief am 30.11.1880
Geschäftsleben Teil 2
"In meinem letzten Briefe habe ich das Vertrauen gebende und deshalb
Vertrauen erweckende Wesen der hiesigen Bevölkerung in prononcirter
Weise hervorgehoben und mit Recht.
Es berührte mich außerordentlich angenehm zu sehen, wie die
Geschäftsleute sofort bereit waren, mir, dem ihnen völlig Fremden,
die ausgesuchten, und noch nicht bezahlten Waaren in das Haus nachzusenden
resp. mir vertrauensvoll mitzugeben.
Zuerst bildete ich mir, und nicht minder meine traute Ehehälfte sich
ein, daß wir so exquisit "gute Gesichter" in den Läden
geschnitten hätten, daß man daraufhin Alles gewagt hätte;
und ich nahm deshalb wiederholt die Gelegenheit wahr, den Geschäftsleuten
klar zu machen, wie das "gute Gesicht" allein ein recht schlechter
Wechsel sei.
"Hat keine Noth" erwiderte man mir verbindlichst lächelnd.
Nun ist das Nachschicken der Waaren ganz schön und zweifellos erhöht
es die Versuchung zum Kauf, besonders zur goldenen Weihnachtszeit, wo jeder
rechtschaffende Ehemann bei uns daheim, im Dunkeln des Abends Paketchen
auf Paketchen heimlich selbst nach Hause tragen muß;
aber, aber auch nachgeschickte Waaren müssen bezahlt werden;
Du kennst, lieber Freund, meine fixe Idee, daß ich keinem meiner
Gläubiger so frank und frei in die Augen schauen zu können meine,
als wie anderen Menschenkindern;
Du weißt auch, daß ich, um mich dieses drückenden Gefühls
zu entledigen, immer sofort nach Empfang der Waaren zu "berappen"
pflege.
Meine heimischen Gläubiger sind mir nun ob dieser meiner Eigenart
niemals gram gewesen;
meine hiesigen aber - merkwürdige Leute das! - scheinen damit nicht
zufrieden zu sein.
"So eilig ist das Bezahlen aber wirklich nicht" erhalte ich stetig
hier zur Antwort, wenn ich auf Rechnungslage dringe.
Ja wirst Du ausrufen, gerade so sagen bei uns die Leute auch, und doch
sind sie herzlich froh, wenn das Geld in ihrem Kasten klingt.
Daß hier aber die Leute in dieser Beziehung die Sprache nicht zur
Verbergung ihrer Gedanken mißbrauchen, dafür möge Dir nun
die eine Thatsache Beweis sein, daß ich um eine Rechnung über
90 M dreimal bitten mußte und beim drittenmale nicht eher aus dem
Laden ging, als bis ich mein Geld aus und den Quittungsschein in der Tasche
hatte.
Ob bei dem hier gebräuchlichen Kreditgeben nicht manches kaufmännische
Konto mit einem "Reinfall" beglichen werden muß, vermag
ich Dir nicht anzugeben, einen äußerlich merkbaren Schlagschatten
dieses Borgsystems glaube ich aber in dem Dunkel der Preise konstatiren
zu können.
Ich kann nicht umhin, die mir auch von Freunden bestätigte Wahrnehmung
zu äußern, daß man hier vielfach die Preise nach der Individualität
der Käufer modelt.
Es giebt, wie ich schon in meinem letzten Brief hervorhob, eine große
Reihe von durchaus reell arbeitenden Geschäften, die selbstverständlich
hier ausgenommen sind, aber im Kleinhandel kommt jenes Dunkel d. h. Schwanken
der Preise wohl durchgängig vor, wie ich Dir durch ein Beispiel von
den vielen illustriren will.
Ich kaufte persönlich 6 Stück einer Waare ein, der geforderte
Preis war - vielleicht mit Rücksicht darauf, daß ich Handschuh
trug, oder wegen meines "guten Gesichtes" (??!) - 80 Pfg. per
Stück.
Nur die Andeutung meinerseits, daß dieser Preis recht hoch sei, genügte,
um das Stück für 70 Pfg. zu erhalten.
Wenige Tage später kaufte eine andere Person - freilich ohne Handschuhe
aber mit "gutem Gesicht" - von demselben Händler und von
derselben Waare 4 Stück a 65 Pfennig ein.
Und die Moral von dieser Geschichte?
Trage keine Handschuh nicht, denn sonst denken die Leute, "der kanns
bezahlen".
Da lobe ich mir denn doch jene Geschäfte, die in unserer nach gleichem
Recht für Alle so mörderisch schreienden Zeit gleich feste Preis
für Alle notiren und nur Abzüge bei Baarzahlung gestatten.
Reste und sogenannte Ladenhüter bleiben dabei ausgeschlossen;
mit denen wird in der ganzen Welt "Ramschhandel" getrieben.
Im Allgemeinen herrscht hier ein recht flauer Geschäftsverkehr;
und wenn das auch seine Hauptursache in den kleinstädtischen Verhältnissen
findet, so mag doch der eigenthümliche Umstand, daß man hier
in jedem Laden so zu sagen Alles erhalten kann, eine wesentliche Quelle
des geschäftlichen Marasmus zu sein.
Es ist wirklich unglaublich, was für tausenderlei Sachen man hier
oft in dem kleinsten Laden kaufen kann:
Viktualien, Colonialwaaren, Glas, Porzellan, Eisen=, Schnittwaaren, Konfektion
u. s. s.
Unsere heimischen Geschäftsleute kultiviren ein jeder seine Spezialität
und ich muß - wenn ich gerade in einer großartig angelegten
Verkaufshalle mich befinde - meinen Kaffee und Zucker wo anders kaufen,
als da, wo ich meine Schuh=Bürsten beziehe.
Diese Art des Handels - ein jeder hat seine Spezialität - setzt den
einzelnen Geschäftsmann in den Stand, in seinem Spezialfache etwas
Vorzügliches zu bieten und sichert ihm dadurch einen weiten Kundenkreis.
In Schleswig - ich spreche im Allgemeinen - bemüht sich jeder Handeltreibende
seinem kleinen Kreise von Kunden möglichst viele Bedürfnisse
zu befriedigen.
Wie bequem dies nun auch für die liebe Nachbarschaft sein mag, so
sind doch mit einem derartigen Handel schwere Nachtheile verknüpft.
Multum non multa ist, meine ich, auch ein goldener Satz für den Geschäftsmann.
Denn das sehr eingeschränkte Absatzgebiet der hiesigen Geschäftsleute
verhindert dieselben, von einer Waare ein größeres Lager zu
halten.
Damit schwindet aber auch jene Anregung zum Kauf, die eine große
Auswahl und die Vielfältigkeit der in großen Waarenlagern niedergelegten
Geschmacksrichtungen durch das Schmeicheln von Sinn und Auge unzweifelhaft
gewährt.
Die wenigen "Novitäten" welche der hiesige Geschäftsmann
für seinen Kundenkreis anschafft, auch nur anschaffen kann, haben
bald den Reiz der Neuheit und damit ihre Anziehungskraft verloren, und
selbst das schwache Geschlecht geht schließlich gleichgültig
bei den Schaufenstern vorüber, in welchem man nur die längst
bekannten Sachen von Zeit zu Zeit an der Sonne aufgewärmt erblickt.
Man sollte nun glauben, daß das vielfache Feilhalten derselben Waaren
die Preise derselben herabdrückte, daß mithin sich in Schleswig
nicht nur gut, sondern auch billig leben ließe.
Doch weit gefehlt! Schleswig ist eine theueres Pflaster - wie ich da das
Wort "Pflaster" niederschreibe, werden sofort meine Hühneraugen
rebellisch;
sie wollen ihrer Meinung von dem hiesigen Straßenpflaster dankbarlichst
Ausdruck verleihen, und ich kann nicht umhin, zu registriren, daß
nach ihrer maßgeblichen Ansicht das schleswigsche Straßenpflaster
ein wahrer "warmer Regen" für sie sei, der ihr Wachsen und
Gedeihen vorzüglich fördere. 10)
Ich bestätige diese "unmaßgebliche" Ansicht als zur
Wahrheit bestehend und komme zu der faktisch bestehenden Theuerung Schleswigs
zurück.
Und theuer ist hier Alles;
nur Kaffee und Sago habe ich relativ billig gefunden, was ich als unparteiischer
Beobachter gern anerkenne. -
Es mögen viele Ursachen diese dem mitteldeutschen Geldbeutel recht
auffällig und am Ende auch recht lästig werdende Thatsache bewirken
- liegt Schleswig doch schon in dem an sich theueren Norden unseres lieben
Vaterlandes - eins ist mir aber gewiß, daß die Art des hiesigen
Handels eine wesentliche Theuerungsquelle bildet.
Die Preise können schlechterdings nicht von den einzelnen Geschäftsleuten
herabgesetzt werden, weil ein jeder nur von einem sehr beschränkten
Kundenkreise lebt;
die Masse bringt es hier eben nicht, deshalb muß der Verdienst an
dem einzelnen Stück so groß sein, daß er die Existenz
des Kaufmanns sichert.
Ob nicht auch die in numerischer Hinsicht dem Fremden auffallenden Handelsfrauen,
welche sich zwischen Käufer und Verkäufer drängen, durch
ihren Zwischenhandel die Preise hoch schrauben, das will ich "ungelogen
sein lassen."
Ich gönne den braven Frauen, die sich hochbetagt im Kampf um´s
Dasein mit ihren Tragkörben redlich abmühen, ihren ehrlichen
Verdienst von Herzen;
nur gefallen will es mir nicht, wenn kräftige gesunde Männer
mit dem Handkörbchen von Haus zu Haus wandern und sich in leichter
Weise ihr Tagesgeld verdienen, anstatt männlich in thatkräftiger
Arbeit ihren Lebensunterhalt zu suchen.
Doch genug für heute!
Ich hoffe, daß Du heuer, wo ganz Deutschland über Gewerbe= und
Handelsprobleme disputirt, und wo Bismarck selbst an das Ruder tritt, um
mit fester Hand das deutsche Schiff aus dem schwankendem Meere der Meinungen
in einen sicheren Port zu führen, daß Du heute genug Interesse
hast, um noch in einem zweiten Briefe Dir von den hiesigen gewerblichen
Verhältnissen etwas vorerzählen zu lassen."
5. Brief am 4.12.1880
Schlachter
"Die in meinem letzten Briefe dargelegte hiesige Handelsmaxime,
daß jeder Handelsmann seinem kleinen Kundenkreise mit möglichst
Vielem aufwartet, ist auch von den Herrn Schlachtermeistern acceptirt worden.
11)
Wir sind in unserer Heimat gewohnt, zu jeder Zeit die verschiedenen Fleischsorten
kaufen zu können;
denn wir besitzen auch in dem kleinsten Städtchen unserer engern mitteldeutschen
Heimath:
a) einen Metzger, der jahraus jahrein nur Rinder schlachtet,
b) einen Fleischer, der das kleiner Getier, als da sind Schweine, Kälber,
Hammel, Lämmer, aufarbeitet. 12)
In größeren Städten scheiden sich die b=Fleischer sogar
noch in Unterabtheilungen, und zwar je nach dem Thiere, das sie zu ihrem
"Lebenslaufe" sich erkoren haben.
Wir brauchen also nur je nach unserem vorherrschendem Geschmack zu a oder
b zu gehen, um die gewünschte Waare jederzeit frisch zu erhalten.
Jederzeit frisch, denn der Schlachter, der nur Rinder schlachtet und dem
seine Herren Kollegen nicht Konkurrenz machen, hat aus letzterem Grunde
einen großen Kundenkreis, der seine Waaren schnell absorbirt.
Anders hier! Der hiesige Schlachtermeister will den Handelsleuten nicht
nachstehen, auch er will seinen Kunden bieten, was seine schwache Kraft
vermag, und deshalb schlachtet er alle Thiersorten.
Man muß sich über die Einmüthigkeit der Schlachter Schleswigs
wirklich freuen.
Pünktlich am Freitag legt ein jeder sein Rind auf die Schlachtbank
und das ganze gute Schleswig schwelgt bis etwa Montag im Genusse der herrlichen
Rinderbraten, Beefsteaks pp.
Bis spätestens Dienstag hält das Rindfleisch vor;
nun kommt Kalbfleisch an die Reihe, ganz Schleswig freut sich der Kalbsköpfe,
Ragouts, Coteletten u. s. w.; Mittwoch und Donnerstag endlich paradirt
Schweine= und delikater Hammelbraten - hier sagt man zierlicher Lammfleisch
- auf dem Tische.
Es soll Dir schwer werden - mir war es bisher unmöglich - hier am
Mittwoch noch ein Stück Rindfleisch zu erhalten.
Das hat nun zwar sein Gutes diese unfreiwillige Regelmäßigkeit;
denn erstens kann man nach dem Braten ungefähr beurtheilen, wie weit
man in der Woche vorgeschritten ist, zweitens wird man verhindert, das
allerdings qualitativ vorzügliche Rindfleisch bis zum Überdruß
zu genießen und drittens wird die weniger umsichtige Hausfrau mit
ihrem kleinen Küchenrecepten=Repertoir in angenehmer Weise dazu gedrängt,
die goldene Wahrheit des "varietas delecat" in Praxi zu übersetzen.
Im Interesse der armen magenkranken Männer und der noch ärmeren
blutarmen Mädchen, für welche erstere (cfr. Dr. Wicl´s
Kochbuch 4. Aufl. Pag. 56) ein gut zubereitetes Beefsteak Cardinalspeise
und für welche letztere (cfr. a. a. O.) ein dito Filetstück besser
als alle Eisentinkturen ist, möchte ich aber wünschen, daß
der eine oder andere Schlachtermeister nach unserer mitteldeutschen Maxime
sich ein Specialfach erwähle und darauf bedacht wäre, auch am
Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ein frisches Stück Rindfleisch den
Bewohnern der Metropole Schleswig=Holsteins feilzubieten.
Ich glaube ihm ein gutes Geschäft im Voraus versprechen zu können."
13)
Abb. 5: Schlachtung in Schleswig
Bauhandwerker
"Eine rühmliche Ausnahme von dem bekrittelten Handelsgrundsatz
machen die Bauhandwerker, da fuscht in der That keiner dem andern in´s
Handwerk!
Laß Dir ein Beispiel als Beweis dienen!
Sind da die Fensterrahmen meiner Wohnung verquollen und das Glas des eisernen
Dachlukenfensters liegt in Scherben.
Ich bestelle also den Glaser in der Erwartung, daß er - wie unser
heimischer Glaser es thun würde -
Alles, was mit Reparatur des Fensters zusammenhängt, pflichtschuldigst
besorgen wird.
Der Glaser erscheint auf dem Felde seine Thätigkeit.
Mit scharfen Blick mustert er seine ihm zugemuthete Aufgabe;
doch bald erklärt er, hier vorläufig Nichts thun zu können,
denn das Dachlukenfenster müßte zunächst von dem "Maurermann"
- so nennt man hier den Maurer - aus seinen kalkige Dachziegelbanden befreit
und ihm zu Füßen gelegt sein, bevor er kunstgerecht die Scheibe
einsetzen könne, das Abhobeln der verquollenen Fensterrahmen sei aber
Tischlerarbeit.
Mein Kopfschütteln half mir Nichts.
Der Tischler müßte kommen;
der Maurermann begann seine Befreiungsarbeit und dann erst machte der Glaser
sich an seine unterbrochene Arbeit, es dem Kollegen Maurermann überlassend,
das "geheilte" Dachlukenfenster wieder an seinen Ort zu bringen.
Das nenne ich "getheilte Arbeit", die freilich die Waare nicht
billiger, aber sehr viel theurer macht.
Nun es muß ja aber doch auch ein Unterschied sein zwischen getheilter
Fabrikarbeit und getheilter Zunftarbeit!
Der "Maurermann" theilt seine Arbeit wieder in einer sonderbaren
Art und Weise ein.
Davon folgendes gleichfalls selbst erlebtes Pröbchen.
Jupiter pluvius hatte mir neulich ad oculus demonstrirt, daß mein
Dach Löcher nachweise, durch welche seine wässerige Himmelsgabe
Zutritt zu meinen inneren Gemächern fand.
Ich halte mir als guter Christ solche Nebengötter gern vom Halse;
deshalb ließ ich besagten Maurermann kommen, auf daß er die
erwähnten Zutrittslöcher nach den Regeln seiner Kunst verhülle.
Das Dach wird untersucht; die Defekte mit Sicherheit konstatirt; d
as Dach wird theilweise ab= und darauf wieder zugedeckt und - "da
ward aus Abend und Morgen der erste Tag."
Die Sonne des zweiten stand schon hoch am Horizont, der Maurermann erschien
nicht;
die Sonne des dritten kulminirte, ohne den Maurermann an meinem Dache zu
sehen;
die Sonne des vierten Tages ging unter und zeigte mir im Abendsonnenschein
recht drastisch, wie leicht das Dach zugedeckt war.
Und wieder ging die Sonne auf, ohne mir meinen Maurermann zu bringen.
Da faßt mich banges Sehnen am sechsten Tage.
Ich suche meinen Maurermann auf, interpellire ihn und erhalte zur Antwort:
"Erst muß der Zimmermann neue Dachsparren einsetzen, ehe ich
weiter arbeiten kann.
Ich will heute zum Zimmermann und ihn bestellen."
Am sechsten Tage Abends also kam meinem guten Maurermann der Gedanke, den
Zimmermann zu requiriren, damit er die am ersten Tage liegen gelassene
Arbeit weiter führen könne.
Was hatte er aber in den letzten sechs Tagen gemacht?
Er hatte gearbeitet und zwar an zwei verschiedenen Stellen.
Um sich Arbeit zu sichern, nimmt er jeden Auftrag an; mein Maurermann hatte
z. Zt. drei solcher.
Er begann bei mir, arbeitete am zweiten und dritten Tag bei A, am vierten
und fünften bei B, dachte am sechsten an mich und führte am siebenten
meine Arbeit ein Stückchen weiter, um am achten wieder bei A und vielleicht
am neunten bei B vorzusprechen und dort weiter zu arbeiten.
So theilt der Maurermann sich seine Arbeit ein.
Auf mein Erstaunen wurde mir zur Antwort, daß diese Arbeitsart hier
allgemein üblich sei.
Ich bin heute noch in Zweifel, was ich mehr bewundern soll, die Geduld
der arbeitgebenden Leute, mit welcher dieselben die in das Hauswesen doch
stets störend eingreifenden Verzögerungen einer an sich schon
viel Schutt abwerfenden Arbeit ertragen, oder die Naivität des Arbeitsmannes,
welcher durch sein Verhalten offen ausspricht, daß die "Herrschaft"
sich nach ihm zu bequemen habe."
Annoncen ohne Adressenangaben
"Ich bin einmal im Schelten!
Gestatte mir, noch einen Uebelstand zu rügen, dann will ich auch ganz,
ganz gut wieder sein.
Es involviert meiner Ansicht nach eine Rücksichtslosigkeit, wenn man
- wie hier es größtentheils geschieht - ohne Angabe der Wohnung
annoncirt.
Schleswig ist, wie Du weißt, eine 7 Kilometer lange Stadt 14) und
auf jeden Kilometer kommen ein Dutzend Schulzes, Meyers, Schmidts, nein
doch - die giebt es hier weniger - aber Hansens, Christiansens und andere
sens, sens;
nun liest man beim Morgenkaffee im Moniteur meinetwegen annoncirt:
"Extrafeinen Mocca-Kaffee, prima Waare ff. J. K. L. M. Hansen."
Mit dem Essen kommt der Appetit, aber auch mit dem Trinken;
seitdem man die Prima=Waare gelesen, schmeckt der Tageskaffee nicht mehr
so recht;
man ist geneigt, einen Versuch zu machen mit dem Mocca, aber wo wohnt der
J. K. L. M. Hansen?
Vielleicht am anderen Ende der Stadt?
Ehe man Nachfragen hält, ehe man das Adreßbuch wälzt, ist
die Geneigtheit durch andere Gedanken unterdrückt.
Der Versuch bleibt ungethan, man trinkt seinen gewohnten "Perlkaffee"
15) weiter und - der Herr J. K. L. M. Hansen ist um vielleicht einen prächtigen
Kunden rum.
Ein Wort (Stadtteil) und eine Zahl (Hausnummer) in der Annonce hätten
ihm vielleicht viele Abnehmer seiner annoncirten Waare zugeführt.
Man muß als Geschäftsmann eben in allen Beziehungen dem verehrten
Publikum entgegenkommen.
Nun bin Alles dessen ledig, was ich auf dem Herzen hatte.
Im nächsten Briefe erzähle ich Dir zur Belohnung dafür,
daß Du mich so geduldig angehört hast, von den Schleswigerinnen
und eingedenk der Dichterworte:
"Wo Starkes sich und Mildes Paaren, [aus Schiller: Die Glocke]
Da giebt es einen guten Klang." von den schleswigschen Marktbauern.
Abb. 6: Annoncen ohne Adressen
6. Brief am 9.12.1880
Schleswiger Frauen und die "andere Liebe"
"Also etwas von den Schleswigerinnen"
Du wirst, lieber Freund, meinem Wunsche im zweiten Briefe entsprechen und
Dir aus dem dort Erzählten bereits das Bild des schleswigschen Mädchentypus
konstruirt haben.
Die stille Sinnigkeit, mit welcher das zarte Geschlecht hier der häuslichen
Blumenpflege obliegt, hat Dich auf sanfte, sorgsame Herzensneigungen desselben
schließen lassen.
Du hast mit der Dir eigenen Phantasie hinter den Veilchenblümchen
im Fenster ein bescheidenes "Kind" gesucht;
Du hast hinter der blühenden Glocksine die arbeitsfreudige Schaffnerin
im Hauswesen, geziert mit dem Fingerhut der Arbeitsamkeit, erblickt, und
das zur Schau gestellte Noli me tangere hat Dir verrathen, daß im
Hause drinnen ein schüchtern sich verbergendes, ätherisch schönes
Töchterchen waltet, welches mit ihren rosigen Wangen gleich ihren
zarten Blümlein der Rauheit des Nordens trotzt.
Nun auch mir ist´s so ergangen, und ich hätte gern meine Phantasien
durch näheren Verkehr mit all den Holden auf ihre Berechtigung geprüft,
aber ich bin verheirathet und meine treue Ehehälfte will derartige
Prüfungen mir durchaus nicht gestatten.
Auf meine Bemerkung, daß solche Examina ja nur vom psychologisch=philosophischen
Standpunkte aus mein Interesse erregten, hat sie immer eine und dieselbe
Antwort:
"Ach geh´ mir mit Deiner Philosophie!
Philosophie hat für Dich keine andere Bedeutung, als sei ein philos
Deiner Sophie, und Deine Sophie bin ich."
Nun bewundere ich zwar jedesmal ihre geistige Deduktion, aber trotz aller
meiner Bewunderung erlaubt sie mir nicht, meine Studien über die Herzenserregungen
der Schleswigerinnen auf den realen Boden der Selbsterlebnisse zu stellen.
Und was thut man nicht als guter Ehemann, um des lieben Hausfriedens willen!
-
Also ich kann Dir aus eigener Anschauung nur berichten, was ich so äußerlich
wahrgenommen habe;
für Alles, was mit dem "Herzchen" zusammenhängt, bürgen
Dir aber meine im Feuer der Wahrhaftigkeit erprobten Freunde.
Wie ihre Blumen sammt Blumentöpfchen erscheinen auch die schleswigschen
Holden äußerlich nett, proper, zierlich.
Schon am frühen Morgen sieht man sie im reinlichen Morgenkleid mit
weißen Häubchen zum Nachbar über die Straßen springen,
im Sprunge den eng anliegenden Hausschuh mit Absatz zeigend.
Das gefällt mir sehr.
Es wirft auf den ganzen Haushalt ein gutes Licht, wenn schon beim Morgenkaffee
alle Familienmitglieder fein säuberlich erscheinen, und zweifellos
ist der Haushalt hier besser organisiert, als da, wo die Hausfrau im tiefsten
Negliée mit ungemachtem Haar und weiten Morgenpantoffeln sich an
die Mittagstafel setzt.
Von einer besonderen schleswigschen Mädchenphysiognomie kann man füglich
ebenso wenig reden, wie von einer besonderen Kleidertracht; dafür
hat Kultur schon allzusehr geleckt und die leichtbeschwingte Mode nur zu
sicher ihren Weg nach hier gefunden.
Wohlthuend auffällig bleiben aber die verhältnismäßig
vielen großen und schlanken Mädchengestalten und das schöne
hellblonde, oft flachsartige Haar, dessen Besitzerinnen uns aus ihren hellblauen
Vergißmeinnicht=Augen zu erkennen geben, daß sie sich ihres
eigenartigen, schönen, nordischen Schmuckes wohl bewußt sind.
Ja, ja! Ich glaube, daß so eine schleswigsche Schöne einem schon
das Herz recht warm machen kann, zumal - das habe ich aus Freundesmunde
- die Rosen an ihrem Hause nicht ohne Bedeutung sind.
Mit Absicht habe ich gesagt, daß die Mode nur zu sicher ihren Weg
nach hier gefunden habe.
Denn putzsüchtig sind die "kleinen Dingerchen" hier doch
recht sehr.
"Die armen Kinderchen", wirst Du weichherzig ausrufen, "können
sich dem Zuge der Zeit nach Genuß nicht entziehen, sie werden im
Strudel mit fortgerissen."
Ich denke mild genug, um Deinem Vertheidigungsgrunde eine gewisse Berechtigung
zuzugestehen;
aber ich meine, daß auch die Putzsucht ihre Grenzen haben muß.
Schön ist Maßhalten; jedes Unmäßige wird unschön.
Der Putzsucht sind nicht nur durch den Stand, sondern auch durch den Geldbeutel
ihre Schranken gezogen;
und wenn - wie ich freilich nur aus ganz äußerlichen Anzeichen
mehrfach beobachtet habe - der Putzsucht der Fräulein Tochter auf
Kosten wichtigerer Interessen, am Ende gar auf Kosten der Ausbildung der
Söhne gefröhnt wird, dann erscheint mir dieselbe als durchaus
verwerflich.
In ihrem geselligen Wesen kennzeichnen sich unsere Schleswigerinnen als
lebensfrohe, frische Kinder Gottes, die wenig von des Gedankens Blässe
angekränkelt sind.
Wenn die ja überall steife Vorstellung vorüber ist, kann man
mit ihnen schon frei von der Leber weg reden, ohne Gefahr zu laufen, einer
ungünstigen Kritik zu verfallen.
Sie sind eben anders als unsere großstädtisch thuenden Dämchen,
welche, vollgepfropft mit unverdauten Reminiscenzen aus Theaterrecensionen
und Bücherkritiken in einem mit accentuirt ausgesprochenen Fremdwörtern
durchsetzten Redeschwall geistreich zu sein glauben, und in deren Unterhaltung
man niemals des mitleidigen Gefühls ledig wird darüber, daß
das bischen oberflächliche "Bildung" mit einer großen
Portion "Herz" bezahlt worden ist.
Ich will Dir den Unterschied drastisch durch folgenden Vergleich klar machen.
Das naturfrische, frohe, herzige Wesen der Mädchen von hier regt mich
im Bewußtsein ihrer moralischen Ueberlegenheit zu dem Liede an:
"Du bist wie eine Blume"; das gekünstelte, prahlende, oft
lügenhafte und aufschneiderische Gethue unserer Großstädterinnen
läßt mich aber im Bewußtsein meines geistigen Ueberlegenseins
mit männlicher Bockbierbaßstimme anstimmen:
"Du bist wie ein Herbarium."
Wir Männer suchen bei den Frauen vor Allem Herz, Herz und nochmals
Herz.
Es war an einem Kneipenabend unserer Schülerverbindung, als Dir das
Thema "über die Liebe" zu einer "Bierrede" von
unserem "Präses" aufgegeben wurde.
Du klassificirtest die Liebe in: "Elternliebe, Bruderliebe, Schwesternliebe,
Vaterlandsliebe und "andere Liebe", sprachst viel über die
ersten vier, ließest aber die ganze Verbindung über die "andere
Liebe" im Dunkeln, vermuthlich, weil Deine jugendlichen Erfahrungen
Dir nicht das genügende Material zu einem "Essay" an die
Hand gaben.
Ganz genau wie Dir damals, so ergeht es mir heute.
Ich will über die Liebe der Schleswigerinnen sprechen, habe aber aus
den oben entwickelten Gründen, die in dem Verbot meiner strengen Gattin
gipfeln, keine Erfahrungen über die "andere Liebe".
Deshalb mache ich es auch genau so, wie Du und spreche nur über die
ersten vier."
7. Brief am 18.12.1880
Ob es Dich interessiren wird, wenn ich, gleichsam als Nachtrag zu meinem
letzten Brief, Dir heute etwas von den schleswigschen Dienstmädchen
erzähle?
Ich will die Frage nicht entscheiden.
Es ist so schwer, dem Menschen in´s Innerste zu schauen, und wenn
ich für mich auch eine tüchtige Erkenntnis Deines Herzens als
Freund in Anspruch nehme, so weiß ich doch nicht, ob darin nicht
noch wirklich geheime Falten und Fältchen vorhanden sind, von denen
mich meine Herzweisheit Nichts träumen läßt.
Aber gerade in solche Fältchen pflegt ja bei Junggesellen das Interesse
für die "kleinen Dienstmädchen" eingewickelt zu sein.
16)
Abb. 7 Dienstmädchen und Husar
Dienstmädchen
Ich will es aber wagen!
Die rege Theilnahme, die Du für Alles, was mit dem praktischen Leben
in Zusammenhang steht, mir stets bewiesen hat, regt mich an, Dir alsbald
so eine "Magd im Putz" von hier ganz ergebenst vorzustellen.
Mit einem aus weißen Bändern sauber garnirten sogenannten Hamburger
Morgenhäubchen im Haar, einen kurzärmlichen Sammetmieder, welches
die rothen, im Winter oft roth=blauen kräftigen Arme öffentlich
ausstellt und einen vielgefalteten, farbigen Wollrock und einer weißen,
die Hüfte umschließenden Schürze angethan pendelt die bausbäckige
Dirne glückselig am Arme eines blau=gelben Husaren dahin.
Ihr strammer Schritt, ihr seliger Augenaufschlag sagt Dir, wie ganz und
voll sie sich der Gegenwart erfreut.
Freilich ist diese Holde nur eine von den wenigen, die ihr nationales Dienstmädchenkostüm
mit Stolz noch trägt, der überwiegend größere Theil
der Dienstmädchen hat es für seine Pflicht gehalten, wenigstens
äußerlich den Unterschied zwischen Herrschaft und Dienstpersonal
zu verwischen und ist sichtlich bestrebt, es der Frau des Hauses mit Federhut
und Schleppkleid gleichzuthun.
Meine Frau hat mir verrathen, daß im letzten Kaffeeklatsch eine schwesterliche
Einmüthigkeit wie selten herrschte, weil darin "das Kapitel über
die Dienstmädchen" besprochen und behandelt wurde.
Sie alle die Kaffeeschwestern - waren einig in dem Urtheil, daß der
Putz= und Vergnügungssucht der hiesigen Dienstmädchen nothwendig
ein Damm entgegengesetzt werden müsse, und daß ihre Liebe "zu
das Militär" entschieden über das Maaß der gewöhnlichen
Vaterlandsliebe hinausginge.
Dem Vortrage einer Kaffeeschwester wurde allseitig Beifall geklatscht,
als sie erzählte, wie unsere Kronprinzessin bald nach Ankunft in Berlin
eines Morgens ihre sämmtlichen Dienstmädchen zusammenberief und
ihnen auseinandersetzte, daß Besen und Schippe mit Volantkleid und
Doppelscheitel nicht zusammenpasse und daß hierfür nur baumwollene
Kleider und einfache Häubchen - jedes der Hausmädchen wurde damit
beschenkt - in ihrem kronprinzlichen Haushalt getragen werden sollten.
Nun kann ja nicht jede Hausfrau, wie die Frau Kronprinzessin, einen Wollrock
aus den Aermeln schütteln, aber es giebt einen anderen Weg, dem unberechtigten
Bestreben nach Genüssen bei dem Dienstpersonale zu steuern.
Wenn - wie bei uns daheim - für jedes Dienstmädchen eine Attestbuch
obligatorisch gemacht wird, wenn jede Herrschaft wahrheitsgetreu das Abgangsattest
ausstellt, wenn jede Hausfrau vor dem Engagement des Dienstboten bei der
letzten Dienstherrschaft sich über den Charakter desselben orientirt,
wenn endlich die Herrschaften keinen solchen ohne Attestbuch annehmen ,
dann wird es - so meine ich - bald besser sein.
Energische Selbsthülfe ist das Losungswort unserer Zeit, warum nicht
auch hier?" 17)
Abb. 8 Alter Dienstmädchen
Selbstbetrachtung
"Was Du doch nicht für ein enragirter Attestfreund geworden
bist", höre ich Dich brummen.
Ja, das bin ich allerdings geworden, weil ich aus ureigenster Erfahrung
weiß, wie zauberbar oft so ein Attest zu wirken vermag.
Laß Dir folgende Geschichte erzählen.
Bringe ich da neulich einen bösen physischen "Kater" mit
nach Haus, dem sich denn auch bald ein moralisches "graues Elend"
an den Schwanz hängt.
In dieser lang entwöhnten Situation steigen mir trübe Gedanken
auf;
ich fühle mich nicht würdig, Mensch zu heißen.
Mein Blick schaut gleichgültig auf das mir vorliegende Aktenstück,
welches meine Personalien enthält.
Da auf einmal wird es helle;
schwarz auf weiß lese ich über beigedrucktem großem Amtssiegel
attestirt, daß ich "ein solider empfehlenswerther junger Mann
sei."
"Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder."
Das Attest hat den "moralischen" besiegt und siegreich wird der
Kampf mit dem "physischen" bei einem Glase "Echten"
und einer Caviarsemmel zu Ende geführt.
Es gruselt mich, daran zu denken, was aus mir ohne jene Bescheinigung geworden
wäre:
Pessimist, Weltverächter, Eremit u. s. f.
Seit jener Zeit nun ist es die reine Manie bei mir geworden, in Allem,
was den Menschen anhängt, Atteste zu erblicken.
Das Gesicht erscheint mir als ein Attest Gottes, das Wesen und der Charakter
als ein Attest der Verhältnisse, in denen sich der Mensch bewegte,
die Sprache als ein Attest der Heimath,
Kennzeichen der Schleswiger
und so will ich Dir nun, am Schlusse meines Briefes, ein kurzes sprachliches
Signalement entwerfen, woran Du einen Schleswiger da draußen in der
Welt als solchen erkennen kannst.
Tritt Dir ein ruhiger, ernster Mann freundlich aber doch zugeknöpft
entgegen, welcher Deine geäußerten Wünsche "gern"
erfüllt und an Stelle unseres "Bitte sehr" ein stereotypes
"Seien Sie so gut" anwendet, der Dich bei der Klage von Sorgen
in einem herzlichen Tone mit "hat kein´Noth", "geht
schon über" Trost zuspricht, der konsequent das u wie o ausspricht
und an Stelle des z ein mehr oder minder scharfes s anhängt; dann
kannst Du schon einen Schleswiger darin vermuthen.
Doch um sicher zu sein, reize ihn durch irgend eine frappirende Erzählung
zu dem Ausruf der Verwunderung.
Ruft er "O ha!" dann darfst Du ihn als einen befreiten, meerumschlungenen
Bruder begrüßen.
Ich könnte Dir noch mehr sprachliche Merkmale an die Hand geben, doch
werden die Dir die obigen vorläufig genügen, und wenn Du auf
diese Weise einen Schleswiger herausgefunden hast, tritt ihm vertrauensvoll
entgegen;
er ist es werth. Die Schale ist rauh, der Kern ist gut." 18)
Schlußwort
Wie es mir im "nordischen Neapel" gefällt?
Ich habe Dir genügende Antwort darauf gegeben.
Du wirst erkennen, daß ich mich ganz mollig fühle, wenn ich
auch nicht leugnen kann, daß weder die rauhen Winde wegfegen, noch
die Schleiwellen wegspülen können die Sehnsucht nach der Heimath
mit ihren immergrünen, hohen Bergen und ihren stillen, friedlichen
Thälern.
Doch, lieber Freund, wer ausharret, wird gekrönt, vielleicht führt
das Schicksal mich wieder bald von dannen und Schleswig mit seinen Bewohnern
ist mir nur noch eine liebe Erinnerung.
Auch hoffe ich mit Zuversicht, daß Mütterleins segenspendende
Quelle nicht versiegt, und ich auch fernerhin daraus schöpfen kann
die silberhellen Markstücke und die goldgelben "Groß=Märker",
so daß ich meinen Auszug aus dem mir "theueren" Schleswig
bewirken kann, ohne Konkurs gemacht zu haben.
Tout comme chez nous, schrieb ich Dir im ersten Briefe;
und ich bestätige es am Schlusse.
Ueberall dasselbe Bild des Kampfes ums Dasein in verschiedenen Nuancirungen.
Der ganze Unterschied zwischen der lieben Heimath und meinem Schleswig
verflüchtet sich in der Retorte der vorurtheilsfreien Anschauung,
und es bleibt für Schleswig Nichts zurück, als - ein wenig mehr
beschauliche Ruhe, wodurch die grellen Farben, welche jenes Bild in unseren
großen Städten zeigt, für Sinn und Auge wohlthuend gemildert
wird.
Solltest Du diese für Dich geschriebenen Briefe im schleswigschen
Moniteur gedruckt lesen, dann denke, daß mich bei der Schilderung
der Schattenseiten Schleswigs der Gedanke geleitet hat:
"Mit Spottkritik, die heut´so sehr im Schwunge
Könnt Ihr bei Gott den Menschen nimmer frommen,
Denn weiser Tadel kommt nicht von der Zunge,
So wie das Lob muß er vom Herzen kommen." [wohl ein eigenes
Gedicht]
Aus diesem selben Herzen heraus kommt Dir der schönste Freundesgruß;
und damit Gott befohlen! Dein unveränderlicher ***
Abbildungen
Abb. 1: Flämisches Milchmädchen, Postkarte 1904.
Abb. 2: "Arm" an Goschs Gasthof, Autor.
Abb. 3: Konditori LaGlace, Autor.
Abb. 4: Blumen und Fenster auf dem Holm, Autor.
Abb. 5: Schlachtung in Schleswig: Schlee, Ernst: Leben und Treiben im alten
Schleswig, 1972, S. 74.
Abb. 6: Annoncen ohne Adresse in Schleswiger Nachrichten 1871.
Abb. 7: Dienstmädchen und Husar, Ansichtskarte 1904.
Abb. 8: Alter Dienstmädchen, Autor.
Anmerkungen
1) Die Wiedergabe der sieben Briefe erfolgt in diesem Aufsatz in der
Originalsprache, unter dem jeweiligen Erscheinungsdaten. Die zum Teil gemachten
Überschriften stammen vom Autor.
2) Theo Christiansen Schleswig 1836-1945. Eine Stadt und ihre Bürger
in 110 Jahren des Wandels aller Lebensbedingungen, Schleswig 1973, S. 212
3) Zu Emil Damms Beurteilung, LASH Abt. 309 Nr. 13989
4) Jochen Nüßler ist eine Figur aus dem Roman Ut mine Stromtid
von Fritz Reuter. Der Roman erschien in drei Bänden in den Jahren
1862 bis 1864 in Wismar.
5) Friedrichsberg in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, ein Brief
von Hk., Teil 7, Schleswiger Nachrichten vom 14.1.1931. "Alkoholische
Getränke waren damals so billig - eine große Schnaps kostete
nur 40 - 50 Pfg. und ein Seidel bayrisches Bier nur 10 Pfg. -, daß
ein ordentlicher Rausch für wenig Geld zu haben war. Und davon machten
wenig Charakterfeste leider zu häufig Gebrauch und setzten sich dann
dem Gespött der Straßenjugend aus. Wie viel Elend war damals
auf dieses Laster zurückzuführen!"
6) Der Autor hat sich alle alten Häuser in der Stadt angesehen und
nach Fenstern ungewöhnlicher Breiten gesucht, die er aber nur bei
wenigen Häusern fand, wie dem Rathaus, dem Freimaurerhospital am Gallberg
3, Lange Str. 19, Marktstr. 6, Norderdomstraße 4 und Fischbrückstr.
1, die zum Teil über große quadratische Fenster verfügen.
Fenster, die breiter als hoch sind, kann man nur in der Süderholmstraße
besichtigen.
7) Der wohlsituierte Beamte verwechselte Zufriedenheit mit Resignation.
Im 19. Jahrhundert sind sehr viele unzufriedene Schleswig-Holsteiner nach
Amerika ausgewandert. In Schleswig wurde 1880 ein Verein gegen die Bettelei
gegründet. Seit 1879 betrieben mitfühlende Menschen in Schleswig
eine Suppenküche für diese bedauernswerten Menschen. Das Amtsgericht
verhängte damals jedes 2. Urteil wegen Bettelei, wofür es beim
ersten Mal 1 Woche Gefängnis gab. Die meisten Bettler waren arbeitslose
Handwerksgesellen, die - heute nachträglich romantisiert - auf Wanderschaft
waren, was die neuen preußischen Herren kriminalisierten. Siehe dazu
die Schleswiger Nachrichten des Jahres 1880 mit Berichten über Gerichtsurteile.
8) Tournüre = Gewandtheit im Benehmen, Auftreten, aber auch "Reifrock".
9) Ein ähnliches Recht gibt es heute in der Straßenverkehrsordnung:
Fußgänger müssen außerhalb geschlossener Ortschaften
die linke Straßenseite benutzen, wenn es kein Trottoir gibt.
10) Auch Graf Adalbert Baudissin, Meerumschlungen - Kriegs- und Friedensbilder
aus dem Jahre 1864, S.2, beklagte das Schleswiger Pflaster: "... denn
im Friedrichsberge ist das Pflaster schlecht - so schlecht - daß
er den Kutscher bittet, langsam zu fahren".
11) Zu den Berufen, die ihre Kundschaft in deren Behausung aufsuchten,
gehörten damals auch die Schlachter. "Man konnte Meister und
Gesellen sehen, wie sie, bekleidet mit loser Schlachterbluse und langer
weißer Schürze, mit gefüllter Fleischmulde von Haus zu
Haus gingen, um ihre Ware abzusetzen. Ebenso wurde in den letzten Wochentagen
bei der Kundschaft der Wochenbedarf erkundet. Das war allerdings meistens
schnell abgemacht, ... denn damals gab es in den allermeisten Familien
Sonntags stets "Frische Suppe"." Quelle: Friedrichsberg
in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ein Brief von Hk., Teil 7,
Schleswiger Nachrichten vom 14.1.1931.
12) Viele Schleswiger Schlachter waren Söhne von Fischern. Quelle:
Hockenbrink, Manfred, Diss. Gießen 1967. Eigene statistische Auswertungen
des Autors ergaben, dass 1881 auf dem Holm (= 6. Quartier) die höchste
Dichte an Schlachtern war (= 6,7 % der Einträge im Adreßbuch).
Der Beamte mochte wohl keinen Fisch essen, denn sonst hätte er auch
dieses Thema behandelt.
13) Der Beamte schwelgte völlig abgehoben im kulinarischen Luxus.
Die Sorgen des "kleinen Mannes" existierten nicht in seiner Welt.
Auf diesen "Brief" erhielt der preußische Gourmet folgenden
Leserbrief am 7.2.1880 im "Sprechsaal"der Schleswiger Nachrichten:
"An den Herrn Verfasser der "Briefe aus Schleswig" Mit großem
Vergnügen, sehr geehrter Herr, lese ich in den "Schleswiger Nachrichten",
deren Abonnentin ich seit dem 1. Juni 1864 bin, Ihre Briefe. Einige Ihrer
Äußerungen erinnern mich an ein altes Sprichwort, welches lautet:
"Süden, Osten, Norden, Westen, zu Hause ist´s am allerbesten.
Tief habe ich die Wahrheit dieser Worte bei einem längeren Aufenthalt
im Süden vor circa einem Jahrzehnt empfunden, deshalb will ich gegen
manche Ihrer Behauptungen Widerspruch nicht erheben, obgleich ich denselben
wohl begründen könnte. Nein der Zweck dieser Zeilen ist Theilnahme;
es thut mir so herzlich leid, daß Sie gegen das Ende jeder Woche
Kalbfleisch essen müssen. Das ist ein Irrthum, Sie müssen nicht;
von Schlachter Langholz im Lollfuß können Sie täglich Ochsenfleisch
erhalten und wahrscheinlich auch in andern großen Schlachtereien.
Wenn Sie sich an Herrn Langholz wenden essen Sie vielleicht von demselben
Ochsen mit dem Minister Bitter, der den Bedarf seines Haushalts von gedachter
Firma aus Schleswig bezieht. - Und nun, geehrter Herr, wenn Sie an einem
Donnerstag oder Freitag vor einer Schüssel mit gutem Ochsenfleisch
sitzen, dann nicht wahr? - ich bitte schön darum (bin ich doch seit
13 Jahren eine Preußin und habe diese Form gelernt) gedenken Sie
freundlich einer alten schleswig-holsteinischen Hausfrau."
14) Die Entfernungsangabe von 7 km stimmt nicht. Von der Busdorfer Grenze
bis zum St. Johanniskloster sind es nur 4 km.
15) Perlkaffee ist eine Spezialität aus Indien. Statt zwei Bohnen
in jeder Kaffeekirsche, die mit der flachen Seite aufeinander liegend gedeihen,
bildet sich hier nur eine kleine, runde Bohne, die den ganzen Geschmack
in sich konzentriert hat.
16) Dass er nicht über Sexualität sprach, war für diese
Zeit normal. Von einer Liebe zu seiner "strengen Gattin" war
aber auch keine Rede. Er verlor auch kein Wort über die vielen Knaben,
welche damals die Straßen spielend füllten. Grund war vielleicht
die Geburt eines Sohnes am 5.8.1877, der nur wenige Stunden überlebte.
Vermutlich vermied er deswegen auch die Themen Kirche und Tod. Dieses einschneidende
Ereignis war für ihre Ehe sicher sehr belastend.
17) Dem preußischen Beamten und seiner Frau war überhaupt nicht
ausgefallen, warum sich die Dienstmädchen so herausputzten. Sie standen
untereinander im harten Wettbewerb, eine "gute Partie" zu machen.
18) Bei Theodor Fontane, Reisenotizen aus Schleswig-Holstein 1864. In:
Fontane-Blätter, Potsdam 1979, S.372, kommen die Schleswiger Männer
nicht so gut weg: "Endlich Anschluß an die 6 oder 7 Schleswiger
Philister, die Lieder singend nach der Stadt zurückmarschirten. ...
Das Ganze hat doch einen Anflug von Krähwinkelei, überheblicher
Selbstbespiegelung und Überschätzung, dazu furchtbare Phrasenherrschaft,
weil der geistige Inhalt nicht groß ist. ... Diese Verspottung der
Dänen - wenn zum Theil auch begreiflich - ist doch ein häßlicher
Zug. Haß laß ich mir gefallen, aber die Dänen zu verspotten,
ich bezweifle, daß die Schl. Holst. ein Recht dazu haben." -
Als Philister wurden damals Menschen mit wenig Bildung und Kultur bezeichnet.