Die Auflösung des Rätsels um die
Säulenfiguren am Bordesholmer Altar:
Abram und Hagar
von Falk Ritter
Veröffentlicht in: Beiträge zur Schleswiger Stadtgeschichte 2019, Seite 205 bis 2010
Siehe insbesondere auch die Nachträge vom August - September 2021 hier unten
Abb. 0: Bordesholmer Altar, links und rechts davon die beiden
Säulenfiguren
Abb. 1: Männliche Säulenfigur
Abb. 2: Weibliche Säulenfigur
Einleitung:
In seinem 2018 erschienen Beitrag "Die rätselhaften Säulenfiguren
des Bordesholmer Altars. Eine Nachlese" stellte Paul Nawrocki verschiedene
Autoren mit ihren Theorien zur Identität der Figuren vor. 1) Doch
konnte auch er ihr Geheimnis nicht lüften. Im Schleswiger Dom werden
sie als Augustus und Sibylle bezeichnet. Der Verfasser wurde bei seinen
Recherchen auf eine Quelle aufmerksam gemacht, die der Suche nach den Namen
der Säulenfiguren die entscheidende Wende gab. 2) Es ist ein Buch
mit Beiträgen von Albrecht et. al., die sieben verschiedene Bilder
der männlichen Säulenfigur enthalten, welche von ihrer jetzigen
Erscheinung abweichen. 3) Kombiniert mit anderen Bildern und Berichten
entstand daraus eine Zeitleiste, die hier nur mit ihren wichtigsten Auszügen
wiedergegeben wird:
1823: Mann nur mit Turban von Carl Julius Milde, siehe Abb. 3
Vor 1937: Mann mit Turban, Zackenkrone, Spangenhelm 4), Reichsapfel incl.
Kreuz siehe Abb. 4
Von 1823 bis 1950 wechselte die Kopfbedeckung mehrfach. Hier waren also
mehrere Bilderstürmer am Werk. Wer das tat und warum es geschah, soll
hier nicht Gegenstand der Erörterung sein.
Abb. 3: Älteste Darstellung der männlichen Säulenfigur (28.6.1823)
von Carl Julius Milde; der Mann trägt nur einen Turban.
Abb. 4: Männliche Säulenfigur vor 1937 Man beachte den Reichsapfel
mit Kreuz!
Welche Version hatte Brüggemann nun geschnitzt?
Version 1: "Alter Mann mit Turban, Zackenkrone, Spangenhelm
und Reichsapfel incl. Kreuz" und eine Sibylle"
Es ist absurd, einen Turbanträger mit Zackenkrone (= Heidenkrone)
und Reichsapfel incl. Kreuz auszustatten und ihn König Christian II.,
Herzog Friedrich I., Kaiser Augustus, König Salomon oder König
David zu nennen. Das Kreuz wurde zwischen 1937 und 1950 entfernt. Die weibliche
Säulenfigur wurde nie verändert. Einige Autoren sahen in ihr
eine "Sibylle". Sibyllen waren vorchristliche Prophetinnen, die
in der Bibel keine Erwähnung fanden. Ihr Erkennungsmerkmal war immer
eine Schriftrolle oder ein Buch (sibyllinische Bücher), was der Schleswiger
Säulenfigur fehlt.
Version 2: "Alter Mann mit Turban und junge Frau"
Für diese Prämisse gibt es zwei mögliche Entsprechungen
in der Bibel:
a) König David und Abisag 5):
"Als aber der König David alt war und hochbetagt, konnte er nicht
warm werden, wenn man ihn auch mit Kleidern bedeckte. Da sprachen seine
Großen zu ihm: Man suche unserem Herrn, dem König, eine Jungfrau,
die vor dem König stehe und ihn umsorge und in seinen Armen schlafe
und unseren Herrn, den König wärme. Und sie suchten ein schönes
Mädchen im ganzen Gebiet Israels und fanden Abisag von Sunem und brachten
sie dem König. Und sie war ein sehr schönes Mädchen und
umsorgte den König und diente ihm. Aber der König erkannte sie
nicht." Die weibliche Säulenfigur kann dieser Rolle nicht gerecht
werden, weil sie eine zu aufwändige Garderobe trägt. Abisag hingegen
kann sich der Verfasser eigentlich nur in einem seidenen Nachthemd vorstellen.
b) Abram und Hagar
Der 86jährige Abram war mit der 76jährigen Sarai verheiratet.
6) Da er über fehlenden Nachwuchs klagte, schlug ihm seine Frau vor,
seine ägyptische Sklavin Hagar zu schwängern. Die Bibel schreibt
weiter:
"Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Und als sie nun sah, daß
sie schwanger war, achtete sie ihre Frau gering gegen sie. Da sprach Sarai
zu Abram: Du tust Unrecht an mir. Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben,
nun sie aber sieht, daß sie schwanger geworden ist, muß ich
gering sein in ihren Augen, Der Herr sei Richter zwischen mir und dir.
Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt;
tue mit ihr, wie dir´s gefällt. Da sie nun Sarai wollte demütigen,
floh sie von ihr."
Bei genauer Betrachtung der weiblichen Säulenfigur 7) fällt ein
kleiner Bauchansatz auf, der auf eine Schwangerschaft hindeutet 8). Hier
passt jetzt alles zusammen: Ein alter Mann, der sehnsüchtig seine
Hände dem ungeborenen Kinde (Ismael) entgegenstreckt. Und eine junge
Sklavin, die einen gewaltigen sozialen Aufstieg erlebt, den sie mit prächtiger
Kleidung und herrschaftlicher Geste unterstreicht. Doch ihre melancholischen
Mienen zeigen, dass sie nicht glücklich sind. Abram trägt an
seinen Händen sechs Fingerringe. Könnte dies ein versteckter
Hinweis darauf sein, dass er Probleme wegen des 6. Gebotes hatte? 9) Die
Skulpturen von Abram, Hagar und Brüggemann haben eine Gemeinsamkeit,
nämlich die Panzerkette auf ihrer Brust, die bei keiner anderen Figur
im Bordesholmer Altar zu sehen ist. Könnte auch dies ein verborgener
Hinweis darauf sein, dass Brüggemann ein ähnliches Schicksal
trug wie Abram?
Abb. 5. Hans Brüggemann
Säulenfiguren = Gedenksäulen
Eine Abbildung aus dem Jahre 1474 illustriert die Salbung Balduins
IV. zum König von Jerusalem (1174). Die Szene spielte in einer gotischen
Kirche. Im Hintergrund und vorne links sieht man acht große Säulen
mit Figuren, die den Schleswiger Exemplaren auch größenmäßig
sehr ähneln, wenn man von der bunten Bemalung einmal absieht.
Abb. 6: Salbung Balduins IV. von Jerusalem
Die Erklärung zu solchen Säulen findet man
bei Braun: 10)
"Die Säulen, an denen das katapetasma [Vorhang] befestigt war,
waren demnach entweder vier Säulen [mit Engeln], die eigens zum Aufhängen
des Velums um den Altar herum errichtet waren, oder die diastyla [Zwischensäulen],
welche das Bema, den Altarraum, vom Schiff der Kirche schieden und oben
den mit den Bildern des Herrn, Marias, der hll. Engel, des hl. Johannes
d. T. und anderer Heiligen geschmückten Gebieter trugen."
Es geht also in Schleswig nicht um Säulen, die Engel trugen und ein
Fastentuch gespannt hielten, sondern um die diastyla, ein schwierig zu
übersetzendes Wort, das vielleicht "Zwischensäulen"
bedeutet. Braun machte sich in seinen Ausführungen darüber Gedanken,
aber das Rätsel konnte er nicht so recht lösen, weil er sie selbst
nie gesehen hatte, sondern nur "Simeon von Saloniki"zitierte.
Der Verfasser glaubt die Auflösung gefunden zu haben: Er interpretiert
die diastyla als Gedenksäulen. An wen oder was gedacht werden soll,
erschließt sich aus dem hölzernen Portrait. Im Schleswiger Dom
stehen also zwei Gedenksäulen. Es stellt sich die Frage, warum Brüggemann
diese Säulenfiguren geschnitzt hat. Wollte er damit womöglich
den eigenen ehelichen Konflikt, in den er geraten war, durch Sublimierung
bewältigen? 11)
Nachtrag am 5.8.2021 im Internet
Seit Sommer 2021 kann man die beiden Säulenfiguren
in Glasvitrinen bewundern. Hier konnte der Autor die Figuren viel genauer
betrachten. Ergebnis: Die Frau hat einen Schwangerschaftsbauch,
der sich ungefähr im 8./9. Monat
befindet und ihre Wirbelsäule zeigt ein ausgeprägtes Hohlkreuz.
Deshalb kann es sich nur um die Darstellung einer wirklich schwangeren
Frau handeln, was die Diagnose des Autors massiv unterstützt. Weder
von Königin von Saba noch von den Sibyllen sind Schwangerschaften
überliefert.
Nachtrag am 26.9.2021:
Betrachtet man die männliche Säulenfigur
von oben, so muß man feststellen, daß die Bohrlöcher für
die Zackenkrone nachträglich angebracht worden sind. Einige Löcher
liegen genau in der Naht zwischen Helm und Turban und ein Loch wurde direkt
in den Turban gebohrt. Dies ist ein sogenannter Kunstfehler.
Der so perfekte Brüggemann hätte so einen Pfusch
nie begangen. Dies ist der Beweis dafür, dass Krone und Reichsapfel/Kreuz
nach Brüggemann von Bilderstürmern angebracht worden sind. Der
Spangenhelm könnte von Brüggemann stammen.
Nachtrag am 27.9.2021
Das Motiv zur Herstellung der Säulenfiguren
Die Ähnlichkeit der
weiblichen Säulenfigur mit Anna von Brandenburg auf der Tumba in Bordesholm
ist nicht zu übersehen.
Beide Figuren zeigen zwei gleichaltrige Frauen, eine Bordüre am bogenförmigen
Ausschnitt des Kleides, Panzerkette, Medaillon am Band und Puffärmel.
Wir finden diese Merkmale auch bei der Hl. Katharina (4. von links) in
der Predella unterhalb des Goschhof-Retabels im Schleswiger Schloßmuseum.
Am 10. April 1502 heiratete die 14jährige Anna den 16 Jahre älteren
Herzog Friedrich, dem sie kurz hintereinander zwei Kinder gebar.
Es waren sehr schwere Geburten, deren Folgen wohl auch zu ihrem frühen
Tod mit 26 Jahren beitrugen.
Vermutlich identifizierte sie sich mit dem Schicksal von Hagar, die auch
von einem älteren Mann (Abram) nur wegen eines dynastischen Nachfolgers
geschwängert wurde.
Mit den beiden Säulenfiguren wollte sie sich wohl selbst ein Denkmal
setzen.
Meine Sublimierungs-Theorie über Brüggemann ist damit hinfällig
geworden.
Abbildungsnachweis:
Abb. 0: Bordesholmer Altar, Abb. 1: Männliche Säulenfigur
und Abb. 2: weibliche Säulenfigur. Gemeinschaftsarchiv Schleswig-Flensburg,
Nachlass von Pastor Walter Körber.
Abb 3: Männliche Säulenfigur von Carl Julius Milde. Mit freundlicher
Erlaubnis am 8.2.2018 von den Lübecker Museen, Museum Behnhaus Drägerhaus,
Grafische Sammlung.
Abb 4: Männliche Säulenfigur mit Zackenkrone und Reichsapfel,
vor 1937. Aufnahme-Nr. 89.003, Bildarchiv Foto Marburg, Genehmigung vom
8.2.2018.
Abb. 5: Hans Brüggemann: Ansichtskarte der Domgemeinde Schleswig.
Abb. 6: Salbung von Balduin IV. von Jerusalem: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Français_5594,_fol._176v_haut,_Onction_de_Baudouin_IV.jpeg.
29.1.2018 130 Uhr.
Anmerkungen:
1) Nawrocki, Paul: Die rätselhaften Nebenfiguren des Bordesholmer
Altars. Eine Nachlese. Beiträge zur Schleswiger Stadtgeschichte 63,
2018, Seite 119-131.
2) Dafür dankt der Verfasser seinem alten Freund Frieder Knüppel.
3) Uwe Albrecht, Gerhard Kaldewei, Hartmut Krohm, Uta Lemaitre und Ursula Lins: Der Bordesholmer Altar des Hans Brüggemann. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1996.
4) Der Spangenhelm unter dem Reichsapfel ist auf diesem Bild wegen der Perspektive nicht zu erkennen. Man sieht ihn aber sehr gut auf Abb. 1.
5) 1. Könige 1, 1-4.
6) 1. Mose 16. Die Namen Abraham und Sara erhielten sie erst in 1. Mose 17, 5 und 15.
7) Der Verfasser hatte die Gelegenheit, die Figuren aus der Höhe und Nähe zu betrachten, wofür er Pastor i. R. Reinald Schröder dankt.
8) Zweiter Hinweis von Frieder Knüppel. Ingrid Drebes wies den Verfasser darauf hin, dass es vor 500 Jahren zum Schönheitsideal gehörte, einen schwangeren Bauch zu simulieren. Eine scheinbare Schwangerschaft würde aber bei der Entschlüsselung der Identitäten genauso in die Irre führen wie die Heidenkrone mit dem Reichsapfel.
9) Abram konnte die 10 Gebote noch gar nicht kennen. Das 6. Gebot taucht erst im 2. Buch Mose 20, 21 auf. Aber das war Brüggemann wohl egal - wenn er es überhaupt wusste.
10) Braun, Joseph: Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung (Band 2): Die Ausstattung des Altars, Antependien, Velen, Leuchterbank, Stufen, Ciborium und Baldachin, Retabel, Reliquien- und Sakramentsaltar, Altarschranken - München, 1924, S.164.
11) "Sigmund Freud bezeichnete mit Sublimierung den Vorgang der Modifikation von Triebenergie in künstlerisch-schöpferische, intellektuelle oder allgemeiner in gesellschaftlich anerkannte Interessen, Tätigkeiten und Produktionen. Es kommt dabei zu einem Wechsel des Zieles (Objekts), auf das sich die Triebenergie ausrichtet". Quelle: WIKIPEDIA 12.12.2018 15.50 Uhr.