Ueber den Koerperkontakt
(Beachten Sie auch den Nachtrag am Ende dieses Beitrages!)
Falk Ritter, Schleswig
Veroeffentlicht in: Sergl, H.G., Huppmann, G., Kreyer, G. (Hrsg.): Jahrbuch der Psychologie und Psychosomatik in der Zahnheilkunde. Band 7, Haensel, Egelsbach 2001
Einleitung
Das Spektrum der psychischen Auffaelligkeiten zahnaerztlicher Patienten
ist waehrend vieler Tagungen und in Veroeffentlichungen hinreichend beschrieben
worden. Was der Autor eigentlich bei allen Beitraegen (einschliesslich
seiner eigenen) vermisste, war die Beantwortung der Frage, warum manche
Patienten psychische Auffaelligkeiten zeigen. Pauleikhoff [14] und Mueller-Fahlbusch
[13] legten in der psychiatrischen Diagnostik grossen Wert auf die biographische
Anamnese, wohl in der Annahme, dass psychische Auffaelligkeiten die zwingende
Folge einer unguenstigen Biographie seien. Dafuer gibt es eigentlich keine
Beweise, denn Kessler [9] stellte fest, dass Menschen mit psychischen Stoerungen
im allgemeinen ihre Umwelt und Lebensgeschichte belastender sehen als sie
tatsaechlich ist. Andererseits wuerden viele Personen trotz massiver Ereignisse
nicht krank. Kann es sein, dass wir in der biographischen Anamnese bisher
einfach nicht weit genug zurueckgegangen sind? Unser Forschungsprojekt
ist der Irrgarten der Seele, aus dem hier eine bisher weniger beachtete
Blume vorgestellt werden soll, naemlich der Hautkontakt.
Jeder kennt die Geschichte von Adam und Eva, die aus dem Paradies vertrieben wurden. Diese Begebenheit muss sehr wichtig gewesen sein, kam sie doch gleich nach den Schoepfungsgeschichten. Wo lag das Paradies und wie ging es wirklich verloren? Vermutlich ist es ist ganz einfach: es war der Mutterleib und die Vertreibung war die Geburt. Was verliert das Neugeborene nach der Geburt? Es verliert den Hautkontakt der Mutter. Wenn sie diesen nicht wiederherstellt, erleidet das Kind Schaden.
Dazu schreibt u.a. Montagu [12, 11, 4, 7, 10,3]: "Die Schlussfolgerungen, zu denen wir hier gelangten, legen es nahe, dass die ausreichende taktile Befriedigung waehrend der fruehesten Lebenszeit und der Kindheit von grundlegender Bedeutung fuer die folgende gesunde Verhaltensentwicklung des Menschen ist. Die durch Experimente der Forschung gefundenen Beweise zeigen sowohl beim Tier als auch beim Menschen, dass taktile Entbehrung in der Jugend im allgemeinen spaeter zu Verhaltensmaengeln fuehrt."
Die Verhaltensmaengel, die sich aus diesem Defizit entwickeln koennen, beschreibt Plack so: [15]: "Wesentlich fuer eine personale Entwicklung ... ist die Pflege des Hautkontakts mit dem Kinde. ... Kinder, die anstelle von Zaertlichkeit nur die "harte Hand" verspueren, werden vielleicht bewusst dazu erzogen, die Haerte unseres "Lebenskampfes" zu bestehen. Sie werden aber auch daran gewoehnt, Schlaege einzustecken und - weiterzugeben." Koennte dieses fruehkindliche Defizit auch die Ursache fuer die Verhaltensmaengel unserer Patienten sein? Koennte sich diese anerzogene Haerte auch nach innen, also gegen sich selbst richten? Die Beantwortung dieser Frage wird nicht einfach sein. Es gilt naemlich herauszufinden, ob unsere psychisch auffaelligen Patienten in den ersten Lebensmonaten unter taktilen Entbehrungen litten, was leider kaum moeglich ist. Es musste daher eine anderer Weg einschlagen werden: Es wird vermutet, dass Menschen, die in den ersten Lebensmonaten viel lustvollen Hautkontakt mit ihrer Mutter hatten, diesen auch als Erwachsene moegen und ihn im anderen Fall ablehnen. Es wurden dann insgesamt drei Untersuchungen durchgefuehrt, um herauszufinden, wie hoch der Prozentsatz der Menschen ist, die Hautkontakt moegen.
Untersuchung 1:
An mehreren Wochenenden wurden insgesamt 1001 heterosexuelle Paare beim
Verlassen eines Museums und bei der Zuruecklegung von ca. 20 Meter Weg
beobachtet. Es wurde festgestellt, ob sie Koerperkontakt hatten und wer
der Initiator war. Ergebnis: 15,2 % der Paare hatten Koerperkontakt. Wer
von den beiden Geschlechtern haeufiger die Initiative unternahm, konnte
nicht festgestellt werden, weil viele Paare schon im Museum Kontakt aufgenommen
hatten, was nicht beobachtet werden konnte. Bei einem Vergleich mit drei
aehnlichen amerikanischen Untersuchungen stellte sich heraus, dass die
beobachteten Koerperkontakte zwischen 15% und 86% schwankten. (Tab.1).
Die Differenzen beruhen darauf, dass es verschiedene Situationen waren,
in denen die Paare beobachtet wurden. Somit sind die Ergebnisse schwer
vergleichbar.
Tabelle 1 Beobachtete Koerperkontakte
Hall / Veccia (1990) [6]15 % in der Oeffentlichkeit, 10 Sek. n = 4500
Willis / Briggs (1992) [16] 44 % im Lokal, sitzend, 5 Minuten n = 500
Guerrero/Andersen (1994) [5] 86 % stehend in Warteschlange, 2 Min. n =
154
Ritter (1997) 15 % 20 m Weg, aus einem Museum kommend n=1001
Untersuchung 2:
Es wurden Heirats- und Bekanntschaftsanzeigen zweier Wochenzeitungen ueber
einen Zeitraum von zwei Jahren ausgewertet. Es handelte sich zum einen
um "Die Zeit"und um die Werbezeitung "Moin-Moin" die
kostenlos an 227.300 Haushalte im Landesteil Schleswig verteilt wird. Die
Anzeigen wurden danach untersucht, wie oft der Wunsch nach nichtsexuellem
Koerperkontakt geaeussert wird, wie "kuscheln" "schmusen"
kuessen und "umarmen" geaeussert wird.
Ergebnis:
2,1 % der "Die Zeit"-Inserenten (n = 9396) und 3,6 % der "Moin-Moin"-Inserenten
(n = 2721) suchten diesen Koerperkontakt. Der hochsignifikante Unterschied
zwischen den beiden Zeitungen chi2 = 17,2 p < 0,001 beruht wohl auf
verschiedenen Leser- und Inserentenschichten. Vergleicht man die Geschlechter
beider Zeitungen, so kommt man auf 2,2 % der Frauen beider Zeitungen (n
= 7485) und 2,8 % der Maenner beider Zeitungen (n = 4632) suchten Koerperkontakt.
chi2 = 5,15 p < 0,05. Dass bei der Partnersuche der Wunsch nach nichtsexuellem
Koerperkontakt so wenig verbreitet ist, erstaunt. Wenn man aber die Untersuchung
von Hegele [8] damit vergleicht, der in 11.407 Anzeigen nur 3,28 % Zaertlichkeitsuchende
fand, so scheinen die eigenen Zahlen nicht abwegig.
Untersuchung 3:
Da die Auswertung der Annoncen nur eine ganz bestimmte Gruppe, naemlich
die der Inserenten erfasst, wurde nach einer Moeglichkeit gesucht, einen
repraesentativen Bevoelkerungsquerschnitt zu befragen. So wurde bei dem
Institut fuer Demoskopie in Allensbach in Auftrag gegeben [1]. 2087 Bundesbuergern
wurden folgende Frage gestellt: "Schmusen Sie gerne oder moegen Sie
das nicht so gerne?" Das Ergebnis ueberraschte insofern, als doch
64 % bejahten, dass sie gerne schmusen.
Diskussion:
Die direkte Beobachtung von heterosexuellen Paaren bezueglich ihres Koerperkontaktes
ist leider wegen der Situationsabhaengigkeit wenig aussagefaehig. Der Unterschied
zwischen der Allensbacher Umfrage (64%) und den Ergebnissen der Auswertung
Heiratsanzeigen (2,4 %) erscheint sehr gross. Den Inserenten pauschal "Verklemmtheit"
zu unterstellen, wuerde aber den Ergebnissen von Berghaus [2] widersprechen,
die in einer Untersuchung fand, dass sich unter den Zeitungs-Inserenten
immerhin 30% sehr gesellige "moderne Konsum-Inserenten" befinden.
Wuerde man naemlich die 2,4 % Koerperkontaktsuchenden nur auf die 30 %
geselligen Inserenten verteilen, so kaeme man auf 8,1 % Koerperkontaktliebende,
was aber immer noch weit von 64 % entfernt ist. Es koennte sein, dass die
Befragten der Allensbacher Studie unter Schmusen mehr den sexuellen Hautkontakt
verstanden. Es gilt daher Methoden zu entwickeln, die zuverlaessig die
Menschen identifizieren koennen, welche den nichtsexuellen Hautkontakt
lieben. Damit koennte man besser der Frage nachgehen, ob die in der zahnaerztlichen
Praxis psychisch auffaelligen Patienten vermehrt unter den Menschen zu
finden sind, die Koerperkontakte eher ablehnen.
Zusammenfassung
In den kurzen Untersuchungen wurde der Frage nachgegangen, wie sehr Koerperkontakte
- zwischen heterosexuellen Partnern - gewuenscht werden. Dazu wurden Verhaltensbeobachtungen
angestellt, Kontaktanzeigen ausgewertet und eine repraesentative Befragung
vorgenommen. Wegen methodischer Probleme waren die Ergebnisse untereinander
schwer vergleichbar und interpretierbar,. Es wurde die Vermutung geaeussert,
dass es einen Zusamenhang zwischen der Ablehnung von Koerperkontakt und
psychischer Auffaelligkeit - auch in der Zanarztpraxis gibt.
Literatur
1. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 6041, Februar / Maerz 1997.
2. Berghaus, M.: Partnersuche - angezeigt. Ullstein, Frankfurt 1985, S.
10.
3. Blaymore Bier, J. A.; Ferguson, A. E.; Morales, Y.; Liebling, J. A;
Archer, D.; Oh, W.; Vohr, B. R.: Comparison of Skin-to-Skin Contact With
Standard Contact in Low-Birth-Weight Infants Who Are Breast-Fed. Archives
of Pediatrics and Adolescent Medicine, Vol. 150, No.12 (1996), S. 1265-1269
4. Bowlby,J.: Maternal Care and Mental Health, Genf. World Health Organisation,
Genf 1951
5. Guerrero, L. K., Andersen, P.A.: Patterns of matching and initiation:
Touch behavior and touch avoidance across romantic relationship stages.
Journal of Nonverbal Behavior 18, (1994), 137-153
6. Hall, J. A., Veccia, E.M.: More "Touching" Observations: New
Insights on Men, Women, and Interpersonal Touch. Journal of Personality
& Social Psychology, 59, (1990), 1155-1162
7. Harlow, H.F.; Zimmermann R.: Affectional responses in infant monkey:
Science 130 (1959) S. 421f
8. Hegele, R.: Suchen - Finden - Sich - Abfinden. Phil. Diss. Erlangen-Nuernberg,
1988. Bd.2, S. 103
9. Kessler, B. H.: Biographische Diagnostik. In: Groffmann, K.J., Michel,
L. (Hrsg.): Enzyklopaedie der Psychologie, Bd. 3, Hogrefe, Goettingen 1983,
S.16
10. Kempe, C.H., Helfer, R. (Eds.): Helping the Battered Child and his
Family. Oxford, New York 1971
11. Liedloff, Jean: Auf der Suche nach dem verlorenen Glueck. C.H.Beck
Muenchen 1987.
12. Montagu, A.: Koerperkontakt. Klett, Stuttgart 1974, S.221
13. Mueller-Fahlbusch, H.: Zur Frage nach dem Wert psychologischer Testverfahren
in sozialmedizinischen Entscheidungen. Oeffentliches Gesundheitswesen 46
(1984) 261 - 264
14. Pauleikhoff, B.: Das Menschenbild. Zweiter Ergaenzungsband. Zeit und
Sein. II. Guido Pressler Verlag, Huertgenwald 1992, S. 272
15. Plack, A.: Plaedoyer fuer die Abschaffung des Strafrechts. List, Muenchen
1974, S.367
16. Willis, F. N., Briggs, L.F.: Relationship and touch in public settings.
Journal of Nonverbal Behavior 16, (1992), 55-63
Nachtrag am 27.4.2003
Ende 2002 besuchte ich eine Diskothek, die mit ungefaehr 2000 jungen Leuten
zwischen 16 und 30 Jahren gefuellt war. Mehrere Rundgaenge ergaben, dass
sich nie mehr als 2 % der Personen berührten - weder auf den Tanzflaechen
noch sonstwo.
Mit der Einführung des Twist durch Chubby Checker im Jahre 1960 begann
der beruehrungslose Tanz als Abwechslung zu den konventionellen Taenzen.
Heute ist diese Tanzform zur Regel geworden. Dies ist eine Kulturrevolution.
Eine Erklaerung dafür gibt es noch nicht.