Ritter, F.: Mut-Angst-Saldierung als Modell zur Beschreibung von Angstentstehung und Angstabbau.

Veröffentlicht in:
Sergl, H.G., Müller-Fahlbusch, H. (Hrsg.): Angst und Angstabbau in der Zahnmedizin. Quinzessenz-Verlag, Berlin, Chicago, London, Sao Paulo, Tokio 1989

Anmerkung der Herausgeber:
Obgleich dem folgenden Beitrag keine empirischen Daten zugrundeliegen, verdient er dennoch Beachtung. Er zeigt, wie ein Zahnarzt eigene Erfahrungen sammelt und reflektiert. Der Verfasser weist besonders darauf hin, daß das beobachtete Verhalten des Patienten das Ergebnis einer Reihe verschiedener positiv oder negativ motivierender Faktoren ist, die der Zahnarzt z.T. selbst zu verantworten hat.

Der Begriff "Saldierung" kommt von "Saldo". Diese beiden Termini werden hier wie in der Buchhaltung verwendet, aus der sie stammen. Durch aufmerksame Beobachtungen in meiner Praxis habe ich dieses Modell der "Mut-Angst-Saldierung" (MAS) zur Beschreibung von Angstentstehung und Angstabbau entwickelt (Abb.1): Ein Sender schickt eine Nachricht an einen Empfänger und bewirkt dort lokal eine Reaktion. Überschreitet diese Reaktion einen Schwellenwert, so wird aus der lokalen Reaktion eine globale Reaktion.

Sender: Bakterienkolonie
Nachricht: Milchsäure
Empfänger: Zahn (Patient)
lokale Reaktion: Karies
Schwellenwert: störende Änderung oder Schmerz
globale Reaktion: Angst / Mut
Abb.1 Modellfaktoren der "Mut-Angst-Saldierung" (MAS)

Unter Sender verstehe ich z.B. eine Kolonie Bakterien oder den Zahnarzt, die Helferin und Bezugspersonen des Patienten.
Unter Nachricht verstehe ich Milchsäure, Natriumfluorid, rotierende Bohrer, Zahnbürste, Lokalanästhetikum, einen Gesichtsausdruck, ein gesprochenes und geschriebenes Wort.
Empfänger ist in meinem Modell primär der Patient. Lokale Reaktionen können sein: Karies, Gingivitis, Hämatom und alle Reaktionen unserer Sinnesorgane.
Unter Schwellenwerten verstehe ich noch erträgliche Zahnschmerzen, störende Änderungen in der Mundhöhle und das "Interesse" des Patienten.
Unter globalen Reaktionen verstehe ich Mut und Angst.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Eine Kolonie Bakterien gibt Milchsäure an einen Zahn ab. Dort entsteht lokal Karies. Stört den betroffenen Menschen diese kariöse Läsion oder erleidet er sogar Schmerzen, so müßte er nach diesem Modell global mit Angst vor den Bakterien und der Milchsäure reagieren. Er tut es aber nicht! Warum? Weil ihm die Bakterienkolonie, ihre Milchsäure und die erste kariöse Läsion meist verborgen bleiben und er unmittelbar weder einen zeitlichen noch örtlichen Zusammenhang zu seinen Zahnschmerzen herstellen kann. Anders ist dies bei der Tätigkeit des Zahnarztes. Hier kann der Patient Ursache und Wirkung sofort erkennen. Angst entsteht, wenn der Patient weiß, daß der Zahnarzt ihm Schmerzen zufügen kann. Mut erwächst aus der positiven Motivierung des Patienten. Die beiden globalen Reaktionen Mut und Angst können mehr oder weniger zeitlich versetzt eintreten. Sie können sich auch ganz oder teilweise neutralisieren. Wie ist dies zu erklären?

MAS-Modell
+ 1 Mut (bei Motivation)
- 2 Angst (bei Schmerzerwartung)
------------------------------------------------
- 1 Saldo
Abb.2 Modellbeispiel

In diesem Modell (Abb.2) wird jeder globalen Reaktion ein Wert zugeordnet, wie 0, 1, 2 usw. Dazu kommt ein Vorzeichen. Plus für Mut und Minus für Angst. Damit ist die globale Reaktion eine numerische Variable. Wenn man die Werte aller Faktoren, die auf den Patienten einwirken, addiert, also saldiert, erhält man den Mut-Angst-Saldo des Patienten. Sein Vorzeichen gibt Auskunft darüber, ob der Patient die Behandlung angstvoll erlebt oder nicht. Ergibt sich ein hoher negativer Wert, wird die Behandlung voraussichtlich verweigert. Ist dagegen der Wert hinter dem positiven Vorzeichen groß, ist der Patient belastungsfähig. Die Bewertung der Einzelfaktoren folgt meinen eigenen subjektiven Kriterien. Das MAS-Model wird nun im folgenden auf zwei Fallberichte angewendet.

1. Fallbericht
Der 1. Fall handelt von einem sehr männlich wirkenden, 30 Jahre alten Patienten. Er wurde von mir parodontalchirurgisch behandelt. Dabei unterbrach er die Behandlung häufig mit Fragen, wie z.B. "Was machen Sie da gerade?" und "Was haben Sie da in der Hand?" Ich reagierte beschwichtigend, reagierte einsilbig, vielleicht auch mit etwas unterdrücktem Ärger. Nach einer halben Stunde zeigte er mir sein Taschentuch. Es lag schweißnaß, zerknüllt in seiner Hand. "Schauen Sie mal, wie naß das schon ist!" sagte er zu mir. Meine Reaktion war ruhig und hilfreich, wie die eines Kellners: "Warten Sie, ich gebe Ihnen ein neues!" Er nahm es verdutzt entgegen, fiel aufseufzend in den Behandlungsstuhl zurück und ließ den Rest der Behandlung resignierend über sich ergehen. Wort- und grußlos verließ er die Praxis und ist nie wieder gekommen.
Was ging in dem Patienten vor? Ich hatte eine als Helferin verkleidete Psychologin engagiert. Sie sollte den Grund für meine damals schlechte Praxisathmosphäre herausfinden. Sie beobachtete folgendes: Der Patient machte beim Eintreten einen etwas ängstlichen Eindruck, den er aber durch betont forsch-männliches Auftreten zu kaschieren suchte. Durch Fragen wollte er Kontakt mit mir aufnehmen. Da ich aber nicht darauf einging, ja sogar ärgerlich reagierte, öffnete er sich mit der Präsentation des Taschentuchs zum ersten Male. Er zeigte mir damit, daß er doch nicht so ein Supermann war, wie er durch seine erste Ausdrucksgeste vorgegeben hatte. Er gab damit zu, daß er Angst hatte. Vielleicht hatte ihm jemand erzählt, wie schrecklich die Nachwehen einer Parodontal-Behandlung sein können? Oder hatte ich ihn nicht richtig aufgeklärt? Und wie reagierte ich? Ich gab ihm ein neues Taschentuch, auf daß er weiter schwitzen möge. Nach dem Modell der Mut-Angst-Saldierung ergeben sich folgende Überlegungen (Abb.3):

- 1 Schmerz-Erwartung
+1 Motivation
-1 Ängstigung durch jemanden oder etwas?
-1 Abweisung von Kontakt-Angeboten
-1 ärgerlicher Zahnarzt
+1 Resignation
-----------------------------------------
-2 Saldo
Abb.3 MAS des 1. Fallberichts

Angst durch Schmerz-Erwartung setze ich bei fast jedem erwachsenen Patienten voraus; das bedeutet: 1 Minus-Punkt. Der Patient hatte diese Angst wohl bekämpft, sonst hätte er sich nicht auf eine Pa-Behandlung eingelassen. Er war also motiviert: 1 Plus-Punkt. Der Saldo war bisher ausgeglichen. Die Psychologin sah ihn aber ängstlich eintreten. Hatte ihn jemand oder etwas geängstigt? Oder hatte er gespürt, daß etwas Geheimnisvolles in meiner Praxis vor sich ging, was wir ihm nicht verraten hatten, so z.B. die Tätigkeit der getarnten Psychologin? Ich habe dafür einen Minus-Punkt angesetzt. Ich ging, wie gesagt, nicht auf seine Kontakt-Angebote ein, ließ ihn also mit seiner Angst allein (=1 Minus-Punkt). Außerdem regierte ich ärgerlich, weil ich mich in meiner Konzentration gestört fühlte (=1 Minus-Punkt). Durch Resignation entspannte sich der Patient: hierfür nehme ich einen Pluspunkt an. Der Saldo betrug also -2. Das bedeutet, daß die Angst und die daraus resultierende Ablehnung überwogen. Ohne mein Fehlverhalten hätte der Saldo nur "0" betragen können. Der Kommentar der Psychologin war: "Sie können nicht auf Patienten eingehen."

2. Fallbericht
Der 2. Fall handelt von einer einfachen, humorvollen, 50 Jahre alten Frau aus meinem Bekanntenkreis. Sie erschien zum ersten Male in meiner Praxis. Gemeinsame Freunde hatten mich ihr empfohlen. Sie hatten mir hinterbracht, daß diese Frau eine panische Angst vor dem Zahnarzt hatte. Auch hatten sie mich ermahnt, darauf Rücksicht zu nehmen. Die Patientin schämte sich wegen des schlechten Zustandes ihres Gebisses. Dabei war sie fest entschlossen, ihre Zähne endlich einmal sanieren zu lassen. Es erstaunte mich, daß sie so gar keinen ängstlichen Eindruck auf mich machte. Ich wollte schon in gewohnter Manier von der Anamnese zur Untersuchung übergehen, und sie auf dem Behandlungsstuhl in die Rückenlage bringen, als ich mich noch einmal besann und ihr folgende Frage stellte: "Haben Sie Angst beim Zahnarzt?" Die Patientin holte tief Luft, wobei ich in der letzten Phase ein leichtes Zittern bemerkte, atmete wieder aus, entspannte sich dabei zusehends und fing wortreich zu erzählen an. Sie berichtete, wie sehr sie schon immer beim Zahnarzt gelitten habe, daß sie deswegen schon lange nicht mehr zur Kontrolle erschienen sein, und daß ihre Zähne deshalb so kariös seien. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich die Angst so richtig von der Seele redete. Es gab sogar ein paar Tränen. Als sie fertig war, fragte ich sie: "Was kann ich tun, um Ihnen diese Angst zu nehmen?" Sie antwortete mir, sich im Stuhl für die Behandlung zurechtrückend: "Ach, wen Sie mich weiterhin so lieb ansehen, dann kann ich meine Angst wohl gut beherrschen." Die Behandlung war unproblematisch und zum nächsten Termin brachte sie mir als Dankeschön eine Schachtel Marzipan-Konfekt mit. Die Mut-Angst-Saldierung stellte sich in diesem Fall so dar (Abb.4):

-2 Schmerz-Erwartung
-1 Scham
+1 Sanierungswunsch
+1 Freunde
+2 Frage nach der Angst
+1 Suggestion
-----------------------------------------
+2 Saldo
Abb. 4 MAS des 2. Fallberichts

Für die "panische" Angst gab es 2 Minus-Punkte. Für die Scham über den schlechten Gebißzustand berechnete ich 1 Minus-Punkt. Für ihre Entschlossenheit, ihre Zähne sanieren zu lassen, wurde 1 Plus-Punkt angerechnet. Die Freunde hatten sie ermutigt (=1 Plus-Punkt). Die Frage nach der Angst war in hohem Maße ermutigend (=2 Plus-Punkte). Das "liebe Ansehen" war eine mir damals unbewußte Suggestion. Auch sie wirkte ermutigend (=1 Plus-Punkt). Der Saldo betrug also +2. Das bedeutet gute Voraussetzungen für die Behandlung. Ohne mein Zutun wäre der Saldo -1 gewesen, durch mein Verhalten änderte ich ihn ins Positive. Damit baute ich die Patientin auf und machte sie belastungsfähig. Ich mußte mich also gegenüber dem 1. Fall geändert haben. Tatsächlich glaube ich durch Selbsterkenntnis über Jahre hinweg einen Prozeß der Reifung durchgemacht zu haben. Früher interessierte mich nur, wie der Mund meiner Patienten beschaffen war, heute kümmere ich mich um den ganzen Menschen.

Konsequenzen
Im folgenden möchte ich einige Empfehlungen für die Praxis geben.
1. Man sollte jedem neuen Patienten in der Anamnese die Frage stellen: "Haben Sie Angst beim Zahnarzt?" und sich geduldig seine Antwort anhören. Dadurch bewirkt man zweierlei: Man erfährt verbal und durch Körpersprache, wie dem Patienten zumute ist. Man erzielt damit bei ängstlichen Patienten aber auch einen spürbaren Angstabbau.
2. Sagt der Patient ungefragt, er habe Angst, sollte darauf unbedingt folgende Frage gestellt werden: "Was kann ich tun, um Ihnen die Angst zu nehmen?" Fast alle Patienten antworten darauf: "Ich weiß es nicht." Unterläßt man aber diese Frage, bleibt der Patient mit seiner Angst allein. Es passiert manchmal, daß ein Patient auf die Frage nach der Angst erschrocken reagiert: "Besteht denn Anlaß für mich, Angst zu haben?" ist eine typische Gegenfrage. In diesem Fall kann man den Patienten immer mit der Feststellung beruhigen, daß es sich um eine Routinefrage gehandelt habe.
3. Wenn der Zahnarzt aus der Antwort weiß, wie dem Patienten zumute ist, muß er seine Behandlung der Belastungsfähigkeit der Patienten anpassen.
4. Man soll dem Patienten genau erklären, was man alles unternehmen wird, um das Auftreten von Schmerzen zu verhindern!
5. Mit dem Patienten sollte vereinbart werden, daß die Behandlung wann auch immer durch ein verabredetes Zeichen unterbrochen werden kann!
6. Schmerzvermeidung hat hohe Priorität.

Empfohlene Literatur
1. Balint,M.: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Klett-Cotta, Stuttgart 1984
2. Balint,M.: Fünf Minuten pro Patient. Suhrkamp, Frankfurt 1977
3. Carnegie,D.: Wie man Freunde gewinnt. Scherz, Bern/München 1983
4. Hofstadter,D. und D.Dennett: Einsicht ins Ich. Klett-Cotta, Stuttgart 1986
5. Ritter, F.: Lernen, auf den Patienten einzugehen. Zahnärztl Mitt 77; 238-239, 1987
6. Vaillant,G.: Werdegänge, Erkenntnisse aus der Lebenslaufforschung. Rohwohlt, Hamburg 1980.

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